Digitalisierung
In einer aktuellen Studie wurde untersucht, welche Möglichkeiten die Aufweichung der Grenzen zwischen lebenden Organismen und technischen Komponenten bietet. Wie die Pflege vom Entgrenzungstrend profitiert.

Langsam schlage ich meine Augen auf und die Bettsensoren kontaktieren unbemerkt bereits den Pflegeroboter, um mein baldiges Aufstehen anzukündigen. Während dieser vorm Eintreten an der Tür klopft, werden ihm die Daten des nächtlichen Schlafs aus meiner Gehirnschnittstelle zugesendet. Nichts Dramatisches, aber die Routineanalyse der Biodaten löst automatisiert eine Anpassung der lokalen Wirkstofffreisetzung der Bioroboter in meinem Blut aus. Keine Veränderung hingegen meldet mein Herz – durch den individuell angepassten 3D-Druck mit Eigengewebe als Biotinte ist es perfekt integriert. „Herrliches Wetter heute!“, unterbricht Robo-Harrold mein Gedankengestöber. Während seine weichen Arme mich beim Aufstehen unterstützen, freue ich mich über diesen neuen Tag.
Was jetzt noch etwas gruselig und nach Science-Fiction klingt, sind einige Beispiele, für die es bereits erste Entwicklungen mit Marktperspektive gibt. Diese Technologen sind Ausdruck eines übergeordneten Entgrenzungstrends, bei dem die Grenzen zwischen lebenden Organismen und technischen Komponenten aufweichen. Innovative Technologien bieten vielfältige Fortschritte in der medizinischen und pflegerischen Versorgung.
Die Möglichkeiten der Entgrenzung und ihre gesellschaftliche Wechselwirkung standen im Fokus einer aktuellen Studie „Auf dem Weg in ein hybrides Zeitalter?“, die im Rahmen des Foresight-Prozesses des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) durchgeführt wurde (vorausschau.de). Die Zukunft erscheint aus heutiger Sicht merkwürdig. Doch wie könnte die Pflege davon profitieren?
Eine alternde Bevölkerung mit steigendem pflegerischem Bedarf
Die Bevölkerung Deutschlands wird älter. Müssen aber viele mit altersbedingter Abschwächung des Körpervermögens rechnen? Nicht unbedingt. Mit neuen Technologien könnte menschliche Vitalität viel länger erhalten bleiben. Es sind die Entgrenzungstechnologien, mit denen auch ältere Menschen weiterhin ein normales und angenehmes Leben führen und sogar ihre Fähigkeiten steigern können.
Digitale Helfer und Begleiter
Smart Wearables sind heute ungewöhnlich für die meisten älteren Erwachsenen. Das könnte sich jedoch bald ändern. Eine Durchdringung des Pflegealltags mit smarten Geräten erlaubt umfassenden Nutzen. Smarte Brillen oder Kontaktlinsen etwa erlauben einen reversiblen digitalen Informationsfluss mit dem menschlichen Körper. Auch miniaturisierte Schaltkreise könnten – als Gehirnschnittstellen – den Körper in ein rundum digitales Ökosystem der künstlichen Intelligenz und Lebewesen einbinden. Damit könnte medizinischer Nutzen gestiftet werden – etwa in der Linderung von Alzheimer oder Parkinson. Nichtinvasive Varianten der Gehirnschnittstelle könnten – kostengünstig und reversibel – ein kontinuierliches Monitoring vitaler Parameter von Aufmerksamkeit und Blutdruck bzw. -zucker bis allgemeiner Hirnaktivität erlauben (Quelle: RS Components).
Dabei ist die kontinuierliche in-vivo-Erhebung von Daten durch smarte Wearables als „Digital Companions“ entscheidend, um neue Anwendungen zu ermöglichen. Sie bildet die Grundlage für eine automatisierte Dokumentation des Patientenzustandes und den Einsatz von KI zur Ergänzung der Patienten-Historie, Erkennung von Stresszuständen, Assistenz in der Krankheitsdiagnostik und präventiver Therapien (Quelle: Deutsches Forschungszentrum für KI).
In Zukunft könnte es in der Pflege auch vermehrt menschenähnliche digitale Begleiter geben. Der Einsatz von Robotern in der Pflege – heute noch ungewöhnlich – wird durch den Mangel an Pflegekräften immer wahrscheinlicher. Bis zum Jahr 2035 werden schätzungsweise rund 500.000 Fachkräfte fehlen. Erste Beispiele sind bereits vorhanden: Entrance Robotics bietet humanoide Roboter wie Pepper für Kliniken und Pflegeeinrichtungen. Sie übernehmen die Ausgabe von Medikamenten, Desinfektion, das Heben von bettlägerigen Patientinnen und Patienten, kommunikative Therapien von an Demenz Erkrankten oder einfach Small-Talk mit Patienten und Patientinnen.
Künstliche Organe statt Transplantationen
Während der Bedarf an Organspenden jährlich steigt, ist die Zahl der Spendenden in Deutschland seit 2018 rückläufig (Quelle: Statista). Damit drohen immer mehr Menschen, auf Organe warten zu müssen. Die Verbindung biologischer Strukturen mit technologischen Werkzeugen zeigt hier neue Wege auf: künstliche Organe. Die Hoffnung ist, Organe künstlich durch Tissue Engineering also gezieltes Anwachsen von Zellen an definierte Strukturen bzw. durch 3D-Druck mit lebendigen Zellen (Biotinte) zu erstellen. Der Vorteil: Organe könnten nach Bedarf produziert und in den menschlichen Körper verpflanzt werden. Bereits heute bieten Start-ups Bioprinting an. Künftig soll dies auf menschliche Organe ausgeweitet werden.
Fortschritte ergeben sich auch durch die Entwicklung neuartiger Biomaterialien. Wirkstoffgesättigte Biofilme können auf Implantatsoberflächen aufgetragen werden, um lokalisiert Abstoßungsreaktionen zu mindern. Neue Bio- und Nanomaterialien können genutzt werden, um Biomarker für Pathogene oder Krebszellen zu erfassen. Bio-hybride Materialien erweitern dabei die Einsetzbarkeit herkömmlicher Materialien und damit das Spektrum medizinischer Anwendungen durch Eigenschaften wie Nicht-Toxizität, Biokompatibilität und biologische Abbaubarkeit.
Bioroboter und chip-gesteuerte Pille – die Zukunft der Medikamente ist intelligent
Die künftige Medizin richtet sich auf individuell angepasste Behandlungen und zielgenaue Heilwirkungen aus. Medikamente mit digitaler Sensorik („smart Pills“) nutzen kleinste Mikroelektronik, um ihren Wirkstoff zum optimalen Zeitpunkt freizusetzen oder Daten über ihre Wirkung an das Smartphone zu senden. Damit schärfen sie das Behandlungsbild aus dem Inneren des Körpers und erlauben einen effizienten Eingriff in den Therapieverlauf. Gleichzeitig wird die kleinskalige Robotik vorangetrieben. Kleinstroboter aus lebendigen Zellen (Xenobots), belebtem Material (synthetische Zellen) oder Molekülen (Nanobots) werden durch zweckmäßiges Design programmiert, um eigenständig spezifische Funktionen wie einen Medikamententransport oder einen chirurgischen Eingriff innerhalb des Körpers auszuführen.
Der Start in die Zukunft: erste Entwicklungen bereits am Markt
Expertinnen und Experten gehen für viele dieser Technologien von einer Markteinführung noch vor 2030 aus. Erste Prototypen – etwa in der Pflegerobotik – sind sogar schon kommerziell zu erwerben. Um das volle Potenzial einer Verschmelzung von Biologie und Technologie zu heben, müssen viele der Technologien weiterentwickelt und skalierbar werden. Eins ist jedoch jetzt schon klar: An biodigitalen Technologien kommt in der Zukunft der Gesundheits- und Pflegeversorgung niemand vorbei.
Kontakt zur Autorin und zum Autor:
Dr. Elena Aminova, Projektleiterin, Prognos AG, presse@vorausschau.de
Jonathan-Aton Talamo, Berater, Prognos AG, presse@vorausschau.de