Fachveranstaltung der Berliner Krankenhausgesellschaft „Zeitarbeit in der Pflege ist auch keine Lösung“

Nun wurde es deutlich: Der Einsatz von Zeitarbeitskräften in der Pflege ist nicht nur ein erhebliches Kostenproblem für Klinikträger, sondern führt neben wachsendem Unmut in der Stammbelegschaft ebenso zu problematischen Folgen für die Versorgung der Patienten. Als Reaktion auf die Kampagne „#PflegeJetztBerlin“ lud die Berliner Krankenhausgesellschaft e.V. (BKG) am 23. August 2022 zur Fachveranstaltung „Zeitarbeit in der Pflege“ in den Hörsaal des Kaiserin-Friedrich-Hauses ein, um mit Politik, Praxis und Wissenschaft gemeinsam über dieses polarisierende Thema zu diskutieren. Betroffene Netzwerk- und Praxispartner der Kampagne hatten sich an die BKG gewandt und beschrieben das Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit des Kompensierens von Personalengpässen und der Sicherstellung ihres Versorgungsauftrages. Die gleichzeitige Inkaufnahme von Qualitätseinbußen und Mehrarbeit durch den Einsatz von Zeitarbeitnehmenden ist nicht mehr nur ein Spannungsfeld, sondern eine kritische Zwangslage. „Gefährliche Pflege“, „Unzuverlässigkeit“, „Unruhe in den Teams“ lautet die negative Konnotation von Klinikträgern, Personalverantwortlichen und den Pflegeteams. Von links: Moderator Hannes Heine, Ulrike Gote, Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung, Christian Zander, gesundheitspolitischer Sprecher, CDU-Fraktion Berlin, Lars Düsterhöft, Sprecher für Soziales und Pflege, SPD-Fraktion Berlin, Dr. Johannes Danckert, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der BKG, Vorsitz der Geschäftsführung & Geschäftsführer Klinikmanagement, Vivantes – Netzwerk für Gesundheit. Negative Effekte der Zeitarbeit wissenschaftlich untersucht Dass diese Bewertung nicht nur subjektiv ist, bestätigten gleich zu Beginn der Veranstaltung zwei wissenschaftliche Vorträge von Prof. Dr. Schumacher, Alice Salomon Hochschule Berlin, und Dr. Karl Blum, Deutsches Krankenhausinstitut. Der internationale Forschungsstand belegt negative Effekte der Zeitarbeit auf die Qualität der Patientenversorgung. So steigt der Anteil nicht geleisteter Pflege bei einer zur Hälfte mit Zeitarbeitnehmern besetzten Schicht sukzessive an und ist sogar höher, als bei einer von bis zu einem Viertel unterbesetzten Schicht, in der nur Stammpersonal tätig ist (Senek et al., 2020). Die Gründe liegen auf der Hand und jeder, der sich an den ersten Arbeitstag in einem neuen Arbeitsumfeld erinnert, kennt sie: Die Unsicherheit ist kein Ausdruck mangelnder Qualifizierung oder Ungeeignetheit, sondern begründet sich naturgemäß in unbekannten Arbeitsabläufen, Kommunikationsdefiziten, fehlenden Informationen zu Patienten und Patientinnen oder zum Vorgehen in Notfallsituationen und bedeuten letztlich Kompetenzdefizite. Leider kommt es dennoch oft genug vor, dass die geliehene Pflegekraft die erforderlichen Qualifikationen nicht nachweisen kann. Diese Defizite müssen, damit sie nicht zu Fehlern, zu unterlassener Pflege und zu einer schlechteren Versorgung führen, vom Stammpersonal ausgeglichen werden. Üblicherweise ist dazu ein Team innerhalb des Einarbeitungsprocederes neuer Mitarbeitenden im Sinne eines Investments parat. Müssen Einarbeitung, Kontrolle und die Übernahme der Verantwortung für geliehene Kolleginnen und Kollegen jedoch nicht nur sporadisch, sondern unaufhörlich stattfinden, führt dies zu einer anhaltend höheren Belastung des Stammpersonals. Der Unmut ist nachvollziehbar und wird verstärkt durch die Übernahme unattraktiverer Dienste des Stammpersonals bei einem vergleichsweise geringeren Gehalt. "Zeitarbeit in einem Fachkräftemangel diesen Ausmaßes verschärft die Situation, leistet aber keinen Beitrag zur Bewältigung – es geht schon lange nicht mehr darum, Arbeitsspitzen abzudecken, sondern darum, unbesetzte Stellen aufzufüllen."Juliane Blume Risiko für Pflegebedürftige als „größtes Übel“ Abgesehen von den Kompensationsleistungen des Stammpersonals, um die nachvollziehbaren Defizite von Zeitarbeitskräften aufzufangen, stellt das eigentliche Risiko für Pflegebedürftige das größere moralische Übel dar. Denn Studienergebnisse zeigten nicht nur einen Anstieg unerledigter Arbeit und unterlassener Pflege als Folge von Zeitarbeit, sondern bestätigen zudem, dass genau diese in der Folge zu einer schlechteren Versorgung und zu einem höheren Sterberisiko führen. So steigt dieses sogar bei dem Einsatz von hochqualifizierten Zeitarbeitskräften ab einem Schwellenwert von 1,5 Stunden pro Patiententag um 14 Prozent signifikant (Dall’Ora et al., 2019)! Der punktuelle Einsatz von Zeitarbeitskräften in der Pflege kann zwar helfen, um kurzfristig Personalausfälle zu kompensieren, werden jedoch viele Zeitarbeitskräfte eingesetzt, lassen sich negative Effekte auf die Qualität der Versorgung und die Sterblichkeit der Pflegebedürftigen nachweisen. Zeitarbeit in der Pflege ist zu einem verfestigten Arbeitsmarkt geworden Dr. Johannes Danckert, stellvertretender Vorsitzender des BKG-Vorstands und Vorsitzender der Geschäftsführung & Geschäftsführer Klinikmanagement, Vivantes – Netzwerk für Gesundheit, beschrieb die Situation in der Metropolregion stellvertretend für viele betroffene Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen. Denn in Berlin ist jede zehnte Pflegekraft am Bett eine Zeitarbeitskraft (Bundesagentur für Arbeit, 2022). Diese Größe ist weit entfernt von einem entlastenden Mehrwert für Pflegeteams und dient lang nicht mehr der Abdeckung von kurzfristigen Personalausfällen oder Belastungsspitzen. Der Einsatz von Zeitarbeit in der Pflege hat sich bereits zu einem eigenen verfestigten Arbeitsmarkt entwickelt. Danckert führte weiter aus, dass die Kosten für den Einsatz von Zeitarbeitnehmenden für Klinikträger erheblich sind und zu einem Viertel nicht refinanziert werden. Nicht selten kommt es neben der beschriebenen Schlechtleistung sogar zu einer Nichtleistung, da Dienste kurzfristig abgesagt werden oder die angefragte Pflegekraft nicht erscheint. Zeitarbeit hindert Weiterentwicklung in der Pflege Dieses Bild bestätigten zwei Vertreterinnen der Praxis: Ilona Hanuschke, Pflegedirektorin der Caritas-Klinik Maria Heimsuchung Berlin-Pankow, und Juliane Blume, Vorsitzende des Landespflegerats Berlin-Brandenburg, ergänzten alarmierend: Der Einsatz von Zeitarbeitskräften kann kein Ausgleich zum Personalmangel sein. Zeitarbeitskräfte sind nicht an der Ausbildung beteiligt, die Pflege kann nicht weiterentwickelt werden. Es ist selten klar, ob Schulungen für Hygiene oder die Einweisung für medizintechnische Geräte etc. durch die Zeitarbeitsfirmen erfolgt sind. Das Stammpersonal muss förmlich jeden Schritt der geliehenen Kraft kontrollieren und dabei aushalten, dass es selbst zum Lückenbüßer für ungeliebte Schichten für den Zeitarbeitnehmer wird. Nicht selten Grund genug, selbst in die Versuchung zu kommen die Anstellung bei einer Zeitarbeitsfirma zu erwägen oder Abwerbeversuchen zu folgen. „Wir befinden uns in einer Abwärtsspirale“, sagte Hanuschke und verdeutlichte das Dilemma: Kliniken und Pflegeeinrichtungen befinden sich im Zugzwang, kommen ohne Zeitarbeit nicht aus und riskieren damit neben hohen Kosten, Unruhe in den Teams, fehlende Beteiligung an der Ausbildung und nachgewiesene Qualitätseinbußen in der Versorgung – eine Hebelwirkung für die Abwanderung des Stammpersonals in Zeitarbeitsfirmen und somit eine Verstärkung des Pflegenotstands in den Häusern. Vorträge digital verfügbar Die Inhalte zu folgenden Vorträgen der BKG-Tagung stehen digital zur Verfügung: „Zeitarbeit in der Pflege – Fluch oder Segen für Personal und Patienten/-innen?“ mit Prof. Dr. Lutz Schumacher, Professor für Personalmanagement und Organisationsentwicklung in Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens, Alice Salomon Hochschule Berlin. Vortrag „Dilemma ohne Ende? – Zeitarbeit im Krankenhaus“ von Dr. Karl Blum, Vorstand & Leiter Geschäftsbereich Forschung, Deutsches Krankenhausinstitut (DKI). Zeitarbeitsunternehmen und Zeitarbeitnehmende haben andere Ziele Andrea Resigkeit, stellvertretende Hauptgeschäftsführerin des Interessenverbands Deutscher Zeitarbeitsunternehmen und Mitglied im Bundesvorstand, ging auf die prekäre Lage für Pflegekräfte und auf die Abwanderungsmotive ein. Zeitarbeit sei dabei nicht die Ursache, sondern letztlich eine Form des Widerstands und sprach dabei den Wunsch aller Beteiligten aus: Den Wunsch nach einer Zukunftssicherung der Pflege. Dem widersprachen die Konferenzteilnehmenden und stellten klar, dass die Motive der Zeitarbeitsunternehmen sich deutlich von den Motiven der Einrichtungen und der Pflegekräfte zur Verbesserung in der Situation in der Pflege unterscheiden. Marc Schreiner, Geschäftsführer der Berliner Krankenhausgesellschaft e.V. und Initiator der Fachveranstaltung, bekräftigte das angesprochene Dilemma und kritisierte den Zuwachs an Zeitarbeit in der Pflege, trotz der vielen Initiativen der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen mit sich weiter verbessernden Aufstiegs- und Verdienstmöglichkeiten. Die Zeitarbeit ist das Symptom für ein systemisches Versagen und wird nicht der Heilsbringer für die bekannten Missstände sein. Er rief dazu auf, den einst entstandenen Dialog der Zeitarbeitsfirmen mit der BKG und weiteren Verbänden wieder aufzunehmen. Gemeinsam muss an einem sanktionsbewährten Rahmenvertrag gearbeitet werden, der Verbindlichkeit, die Gewährleistung von Qualität und eine faire Kostendeckelung zusichert. Die ausufernden Quoten müssen eingedämmt und der Einsatz von Zeitarbeit auf ein vernünftiges Maß reguliert werden. Um einen entlastenden Effekt für das Stammpersonal bei einem moderaten Einsatz von Zeitarbeitskräften zu erzielen, dürfen Schichten nicht mehr exzessiv mit Zeitarbeitskräften besetzt sein. Es müssten nun alle Anstrengungen unternommen werden, um das bezifferte Risiko für die Sicherheit der Patienten auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Klares „Ja“ zur Eindämmung von Zeitarbeit in der Berliner Pflege Mit diesem Appell kam das politische Podium zu Wort. Die Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung, Ulrike Gote, sowie die Sprecher der CDU-Fraktion, Christian Zander, Gesundheitspolitischer Sprecher, und der SPD-Fraktion, Lars Düsterhöft, Sprecher für Soziales und Pflege, waren sich einig in der Eindämmungsfrage. Dreimal ein klares „Ja“ zur Eindämmung der Zeitarbeit in der Pflege in Berlin. Darüber hinaus bekräftigten sie Maßnahmen zur Stärkung einer nachhaltigen Arbeitszufriedenheit und räumten ein, dass das Arbeitsumfeld Pflege zu lange vernachlässigt wurde. Senatorin Gote bestätigte die Notwendigkeit und sieht es als Aufgabe ihrer Behörde an, das Thema „Zeitarbeit in der Pflege“ an einen Tisch zu bringen, um kreative Lösungen zu entwickeln. Die BKG zieht nach dieser Veranstaltung ein solides Resümee aus einem kontroversen, aber fairen Diskussionsauftakt. Diesem werden nun konkrete Bemühungen zur echten Eindämmung der Zeitarbeit in der Pflege folgen. Das Thema ist jedoch nicht neu. Bereits 2020 strengte die BKG Maßnahmen zur Begrenzung auf Landesebene an. Mit einer Bundesratsinitiative beschloss der Senat, eine Entschließung zur Eindämmung der Zeitarbeit in der Pflege in den Bundesrat einzubringen. Dieser beinhaltete u. a. das Ziel, über eine Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) die Arbeitnehmerüberlassung in Einrichtungen des Pflege- und Krankenhausbereiches für Arbeiten, die üblicherweise von Pflegekräften verrichtet werden, einzuschränken. Eine Umsetzung erfolgte nicht. Nun, zwei Jahre später, ist das Thema aktueller denn je und nach wie vor ungelöst. Die beschriebenen negativen Auswirkungen auf die Attraktivität der Festanstellung verstärken den ohnehin bedrohlichen Fachkräftemangel. Eine klare, spürbare Eindämmung von Zeitarbeit in der Pflege ist ein Muss. Die Politik ist nun aufgefordert, zeitnah entsprechende Maßnahmen einzuleiten, die die Position der Krankenhäuser gegenüber den Zeitarbeitsagenturen stärken und eindeutige Reglementierungen beinhalten. Literatur Bundesagentur für Arbeit (2022): Statistik. Leiharbeitnehmer und Verleihbetriebe – Deutschland und Länder (Monatszahlen, Jahreszahlen und Zeitreihen). Nürnberg: o. V. Online verfügbar unter: https://statistik.arbeitsagentur.de/SiteGlobals/Forms/Suche/Einzelheftsuche_Formular.html?nn=1523080&topic_f=beschaeftigung-anue-anue. [18.08.2022].Dall’Ora, C.; Maruotti, A.; Griffiths, P. (2019): Temporary Staffing and Patient Death in Acute Care Hospitals: A Retrospective Longitudinal Study. Journal of Nursing Scholarship. https://doi.org/10.1111/jnu.12537. [01.09.2022].Senek, M. et al. (2020):The association between care left undone and temporary Nursing staff ratios in acute settings: a cross-sectional survey of registered nurses. BMC Health Services Research. https://bmchealthservres.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12913-020-05493-y. [01.09.2022]. Kontakt zur Autorin: Juliane Ghadjar, Referentin Pflegeeinrichtungen/Kampagnenkoordinatorin #PflegeJetztBerlin, Berliner Krankenhausgesellschaft e.V.(BKG), pflege@bkgev.de

Fachveranstaltung der Berliner Krankenhausgesellschaft „Zeitarbeit in der Pflege ist auch keine Lösung“

Reimbursement im Überblick

Digitale Gesundheit von A bis Z

Newsletter-Anmeldung