Digitalisierung
Heute, am 1. Januar 2022 feiert die elektronische Patientenakte (ePA) ihren ersten Geburtstag. Mit der Einführung wurde ein Versprechen eingelöst, das 2003 im Koalitionsvertrag der ersten Rot-Grünen Regierung ausgehandelt wurde. Ein Rückblick auf ein Jahr ePA.
Am 1. Januar 2021 wurde mit der Freigabe der elektronischen Patientenakte (ePA) zur öffentlichen Nutzung ein Versprechen eingelöst, das 2003 im Koalitionsvertrag ausgehandelt wurde. Die Ernüchterung setzte nur wenige Tage später ein. Im „Testbetrieb“ wollte man erst einmal feststellen, ob die effektiv über 15 Jahre lang geplante und entwickelte, umfangreichste Applikation auf Grundlage der Telematikinfrastruktur überhaupt funktioniert, bevor man sie öffentlich zur Verfügung stellt. Um sich überhaupt für das System registrieren zu können, mussten Patientinnen und Patienten in der Regel erst persönlich bei ihrer Krankenkasse vorstellig werden, um den Zugang zu einer Smartphone-App für die Verwaltung ihrer Dokumente freizuschalten. Features, die den Alltag vereinfachen oder der Vision eines digitalisierten Gesundheitssystems gerecht würden, gab es dagegen nahezu keine. Die Adaptionsrate der ePA von gerade einmal 0.5% aller Versicherten lässt tief blicken.
Noch ist der Funktionsumfang mager
Betrachtet man den gewaltigen Aufwand, der in der Entwicklung der ePA steckt, ist der Funktionsumfang der Patientenakte auch im Jahr eins nach ihrer generellen Verfügbarkeit noch relativ mager. Seit dem 1. Juli ist es laut Gematik möglich, Notfalldatensätze, Medikationspläne und Arztbriefe schematisch korrekt in die ePA zu überführen, aber das „Killerfeature“ bleiben weiterhin Dokumente, die Patientinnen und Patienten selbst eintragen. Per 1. Januar 2022 sollen Mutterpässe, Zahnbonus- und Kinderuntersuchungshefte folgen sowie ein genereller Impfpass, der allerdings nicht für den digitalen Nachweis einer Covid-19-Impfung genutzt werden kann. Zusätzlich soll es künftig die Möglichkeit geben, Abrechnungsbelege von Krankenkassen zur Akte hinzuzufügen und seine ePA zu einer anderen Krankenkasse zu migrieren.
Das ist nicht wahnsinnig innovativ bzw. zukunftsweisend. Bevor man aber voreilig die ePA als den vertrödelten Fehlstart eines jahrzehntelangen, behördlich betreuten Bundesvorhabens bezeichnet, muss man den Kontext betrachten, in dem ihr Roll-out stattfand. Mitten in der Hochzeit einer weltweiten Pandemie hatte man wahrlich andere Sorgen, als das Gesundheitssystem zwangsweise von der Zettelwirtschaft zu befreien. Und nur wenige Monate vor dem Startschuss der ePa äußerten die höchsten Datenschützer der Republik mit großer Vehemenz ihre Sorge, dass sie ohne ein alleine von den Patientinnen und Patienten kontrolliertes Rechtemanagement für den Zugriff auf Informationen vor Gericht scheitern würde. Ein solches Desaster konnte die Gematik, die federführende Gesellschaft hinter den Schnittstellen und Spezifikationen der ePA und Betreiberin der ihr zugrunde liegenden Telematikinfrastruktur, gerade noch verhindern, indem sie die Richtlinien umsetzte und ein Freigabekonzept für Patient:innen inklusive Ende-zu-Ende-Verschlüsselung für Dokumente in der ePA einführte. In der Folge können Patientinnen und Patienten nun Dokumente individuell für ihre Behandler und Behandlerinnen freigeben oder vollständig aus der ePA löschen.
Jetzt ist die Community gefragt
Nur Tage nach ihrem Soft-Launch legte die Gematik ein Strategiepapier „TI 2.0“ vor, das die Zukunft der Telematikinfrastruktur in ein besseres Licht rücken soll, dabei aber zwischen den Zeilen mit vielen Konzepten bricht, die vorher zum Fundament ihrer Architekturüberlegungen gehörten. Das TI2.0-Whitepaper weist zum Glück in eine andere Richtung: statt einer monolithischen „Hochsicherheitscloud“ möchte man die Community, die sich mit digitalen medizinischen Dienstleistungen beschäftigt, mit an den Tisch holen.
Fest steht: Digitalisierung ist kein Thema fürs Reißbrett. Digitalisierung entsteht, wenn viele Parteien unabhängig voneinander auf Augenhöhe und derselben Gesprächsgrundlage Lösungen entwickeln, die sie miteinander integrieren können, ohne dafür ein hoheitliches Konsortium um Erlaubnis fragen zu müssen. Die Gematik versteht sich gemäß ihrer neu ausformulierten „Arena“-Strategie als Dreh- und Angelpunkt für ein solches Ökosystem.
Bemerkenswert ist dennoch die technologische Offenheit der Gematik für hochaktuelle Lösungen zur Bewältigung gängiger Anforderungen. Für den Textnachrichtendienst „TIM“, der im Sommer 2022 die gelebte Praxis inoffizieller Kommunikation über WhatsApp ablösen soll, bedient man sich des offenen, Ende-zu-Ende-verschlüsselten und verteilten Chat-Netzwerks Matrix, das u.a. auch bei der Bundeswehr für Textnachrichten zum Einsatz kommen wird. Weniger offen scheint die aktuelle Vorgehensweise der Gematik hinsichtlich der Ausgestaltung der Identität von Teilnehmenden des Ökosystems zu sein.
Um einen elektronischen Heilberufsausweis zu beantragen, der Leistungserbringende überhaupt erst den Zugriff auf die relevanten Dienste der TI ermöglicht, müssen sie nicht nur ein Formular im Mitgliederportal ihrer Ärztekammer ausfüllen und sich für einen Herausgeber der für sie gefertigten Sicherheitsmerkmale entscheiden, sondern auch nahezu alle persönlichen Daten, die Ottonormalverbraucherinnen und -verbraucher nur unter größten Bedenken im Internet preisgeben würden, in ein Online-Formular eintippen, das Ergebnis ausdrucken und bei einer Poststelle ihres Vertrauens durch ein PostIdent-Verfahren überprüfen lassen.
Für ihre Vision der TI 2.0 setzt die Gematik hingegen auf ein föderiertes Identitätsmanagement, bei dem Krankenkassen, kassenärztliche Vereinigungen oder Ärztekammern die Rolle der Identitätsprovider zukommt.
Lauterbach äußert sich kritisch
Der neue Gesundheitsminister Lauterbach hält sich mit Kritik gegenüber der bisherigen Errungenschaften nicht zurück und bemerkte unlängst im Rahmen von Sascha Lobos “Zukunft verstehen”-Podcast, dass der Anschluss von Krankenhäusern an die TI sicherlich ein erstrebenswertes Ziel sei, das aber daran scheitern könne, dass nicht einmal jedes Krankenhaus über ein für den Anschluss notwendiges KIS verfüge.
Auch seit der vom ehemaligen Dienstherren der Gematik Jens Spahn 2018 verordneten Geschwindigkeitsoffensive hat sich die digitale Welt längst weitergedreht. Von zentraler Stelle kontrollierte Netzwerke, die ihre Sicherheit vorrangig durch besonders dicke Schlösser an ihren Eingangstüren erlangen, werden zunehmend durch dezentrale Netzwerke und durch ihre Teilnehmer kontrollierte Akteure verdrängt.
Die Diagnose für die ePA könnte „Adipositas in der IT“ lauten. Das Vorhaben, immer mehr Anwendungen auf der Infrastruktur zu implementieren und gleichzeitig deren Konzeptionierung und Umsetzung auf möglichst viele Schultern zu verteilen, wird nicht aufgehen. Die 20er Jahre werden nach den „sequentiellen“ und „agilen“ Herangehensweisen an Prozesse zum Jahrzehnt der Dezentralisierung. Es gilt, das Bild einer vom Platzwart absperrbaren Arena durch die eines Ameisenhaufens zu ersetzen, Start-ups dazu zu befähigen, auch an den Grundlagen des Systems mitzuwirken und es stets entlang der Akteure und Akteurinnen zu konzeptionieren, die am meisten von einer Patientenakte profitieren: den Patientinnen und Patienten.
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Stefan Adolf, Developer Ambassador bei Turbine Kreuzberg, Fullstack-Entwickler, Kontakt: stefan.adolf@turbinekreuzberg.com |