Lesetipp Wenn die eigene Mutter entschwindet

Pünktlich zum Welt-Alzheimertag kommt ein sehr persönliches Buch auf den Markt: „Im Entschwinden so nah“ beschreibt die Veränderung einer familiären Beziehung, wenn die eigene Mutter diese Diagnose erhält und die Tochter den Weg ins Vergessen begleitet. Für Barbara Keifenheim umso schwieriger, als sie stets ein eher distanziertes Verhältnis zu ihrer Mutter hatte. Zugleich versucht die Ethnologin, die Welt von Menschen mit Demenz zu erkunden.

© Verlag Herder

Was bleibt von einem Menschen, der sein Gedächtnis verliert? Wie verändert sich die Beziehung zur eigenen Mutter, die an Alzheimer erkrankt? Diese beiden Fragen bilden den Ausgangspunkt von „Im Entschwinden so nah“. Für die Autorin umso schwerere Aspekte, als Barbara Keifenheim zeitlebens ein distanziertes Verhältnis zu ihrer Mutter Gerda hatte. Die Diagnose sollte dann alles ändern – für beide. Erst beginnt die Krankheit schleichend, doch über die Jahre wird sie schlimmer.

„Mutter wächst in den Boden“

Im letzten Lebensjahr der Mutter beginnt Barbara Keifenheim mit ihren Aufzeichnungen zu Entwicklungen und eigenen Gedanken. Manchmal reichen schon kleinste Episoden über nur elf Zeilen, die verdeutlichen, wie rapide es schließlich abwärts ging.

„Mutter wächst immer mehr in den Boden“, heißt es etwa und skizziert die zunehmend gebückte Haltung, die nur noch auf die Griffe des Rollators fixiert war. Oder: „Jämmerliches Schreien drang heute Nachmittag aus dem Badezimmer. Mutter schaute entgeistert auf ihre Unterhose.“ Ein Fauxpas, der jedem Pflegenden und jedem pflegenden Angehörigen nur zu gut bekannt ist. Wie die Tochter sich der Situation stellt, ist dann eher eine sehr persönliche Auswertung: „Ich war erstaunt, dass ich die Berührung mit so viel Sch… so gelassen ertragen konnte.“

Solche Szenen ließen sich diskreter beschreiben … Aber wozu falsche Zurückhaltung, wenn das „Rauslassen“ einfach sein muss und so noch die Herausforderungen auf den Punkt bringt? Das erschreckt, doch es berührt auch.

Individualität und Würde retten

Die Autorin schildert dabei nicht nur ganz private Erlebnisse, sondern versucht zugleich als Ethnologin, die ihr fremde Welt von Menschen mit Demenz zu erkunden. Bei aller Rationalität spürt der Leser, wie schwer es fällt, sich auf diese veränderte Wahrnehmung einzulassen und wie viel Kraft erforderlich ist, um so „gefühllos“ wie möglich auf eine Reduzierung auf Symptome oder auf die Krankheitsentwicklung zu verzichten.

Genau so klar wird aber auch: Diese Mühe ist so notwenig wie sie sich lohnt. Zum einen, weil Barbara Keifenheim auf diese Weise Erinnerungen wach hält. Zum anderen, weil sie durch diese Mitarbeit – und es ist Arbeit – die Individualität und die Würde ihrer Mutter bis zu deren Tod retten konnte. Wie die Tochter für sich feststellt, „dass ich noch nie so intensiv und anhaltend über meine Mutter nachgedacht hatte wie jetzt, da sie mir entschwand.“

Ein etwas anderes Tagebuch

Dass die Gratwanderung zwischen einem reflektierten Hinsehen, etwas Nüchternheit und eigener Emotionalität nicht immer gelingt, zeichnet das „Tagebuch der anderen Art“ im besten Sinne aus. Auch das Schwanken zwischen Humor und Empathie ist nur allzu menschlich, wie es dem Werk stilistisch zu einer eigenen Note verhilft. Die Aufzeichnungen sind eben mitten aus dem Leben, mitten aus einer Krise und, vor allem, im Angesicht der Endlichkeit entstanden. Diese Nähe, an der die Leser teilnehmen dürfen, ist die große Leistung der gut 200 Seiten. Die übrigens auch für diejenigen, die schon ähnliche Titel wie „Der König in seinem Exil“ oder „Vergiss mein nicht“ verschlungen haben, noch neue Facetten der Teilhabe und Einsicht bieten.

Buchtipp
Keifenheim B. (2015) Im Entschwinden so nah. Abschied von meiner Mutter – Ein Alzheimer-Tagebuch. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder