Versorgungsforschung
Krankheit bzw. Symptombekämpfung stehen im Fokus der gegenwärtigen Gesundheitswirtschaft. Dabei würde eine Umorientierung in Richtung Prävention nicht nur den Ansprüchen der Bevölkerung gerecht werden, sondern wirtschaftlich betrachtet auch einen Return on Invest (ROI) bringen.

Vorsorge vor Nachsorge: Dieses Prinzip hat eine universelle Bedeutung. Gezielte Prävention ist klüger und günstiger als die Behandlung und Behebung von bereits eingetretenen Schäden. Diese Prämisse ist aber nur ansatzweise in den Strukturen des Gesundheitswesens verankert, der Fokus liegt auf der Erkennung der Symptome bei schon eingetretener Erkrankung und einer erst dann einsetzenden Behandlung. Kurz: Im aktuellen Gesundheitssystem ist primär die Bekämpfung der Krankheit bzw. deren Symptome incentiviert, nicht aber eine vorbeugende Vermeidung oder frühzeitiges Erkennen von Gefährdungen und, darauf aufbauend, entsprechende Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit.
Strukturelle Probleme, der ausgeprägte Fachkräftemangel und Finanzsorgen der Krankenhäuser kommen dazu und führen oft zu rein an den Kosten orientierten kurzfristigen Lösungsansätzen. Die wesentliche Rationale: Krankenhäuser und Ärzteschaft verdienen an Krankheit, nicht an der Gesundheit der Bevölkerung.
Die Potenziale von E-Health und KI nutzen
Dabei kommt einem weiteren Element eine große Bedeutung zu: Die moderne Medizin konzentriert sich in hohem Maße allein auf das Individuum; statistisch zu erfassende Muster von Gesundheitsgefährdungen werden aufgrund fehlender Aufnahme und Auswertung von Gesundheitsdaten, also fehlender Digitalisierung und Anwendung Künstlicher Intelligenz (KI) bei der Auswertung von Daten, nur unzureichend hinzugezogen. Mit dem European Health Data Space (EHDS) wird – endlich – daran gearbeitet, angemessene Strukturen zu entwickeln, um Daten für das Individuum, aber auch die öffentliche Daseinsvorsorge und die Forschung zur Verfügung zu stellen. Wichtige Fragen bedürfen dabei der Klärung, wie
- die Verfügung über die individuellen Daten durch den Einzelnen und
- die systematische Weitergabe der Daten an Dritte.
Auch hier muss dringend ein angemessener Rechtsrahmen entwickelt und umgesetzt werden. Hinzu kommt, dass die gesellschaftliche Krankheitslast derzeit nicht verständlich und vergleichbar in Geldeinheiten ausgedrückt wird. Dies ist jedoch die Grundlage für gezielte Investitionen in Präventionsmaßnahmen für eine gesündere Bevölkerung.
Kluge Gesundheitsinvestitionen haben einen hohen ROI
Wie bei der Klimaveränderung muss auch im Gesundheitswesen vermieden werden, dass ein Kipppunkt erreicht wird, an dem der soziale Ausgleich wegen ausufernder Kosten nicht mehr zu organisieren sein wird. Dazu muss sich die Zielrichtung auf die Transformation der sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen fokussieren. Das breite Feld der Akteure und Einrichtungen im Gesundheitswesen sollte sich auf neue Arbeits- und Versorgungsformen ausrichten, um dann aus der Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung einer Region einen klar bezifferbaren, volkswirtschaftlichen Erfolg zu erzielen. Besonders klar durch die Arbeiten des WifOR-Instituts belegt sind die positiven volkswirtschaftlichen Effekte gezielter Gesundheitsinvestitionen, die ökonomisches Wachstum, Beschäftigung, Innovationen und letztlich eine verbesserte Gesundheit für alle bewirken. So zeigen beispielsweise die Berechnungen des WifOR für das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) 2023, dass die industrielle Gesundheitswirtschaft im Jahr 2022 über 100 Milliarden Euro Wertschöpfung generiert und mehr als eine Millionen Menschen beschäftigt. Die OECD hat gerade ganz aktuell eine Studie veröffentlicht, in der sie modelliert hat, dass die Einführung der OptiMedis-Lösung zur regionalen Versorgung in Gesundheitsregionen zu jährlichen Einsparungen bei den Gesundheitsausgaben für die über 20-Jährigen in den EU-27-Ländern von durchschnittlich vier Prozent führen würde und im Schnitt in Deutschland bis 2050 kumuliert knapp 150.000 Lebensjahre retten würde.
Vorhandene Daten für gezielte Investitionen einsetzen
Ansätze zu einer strukturellen Neuorientierung sind vorhanden und müssen konsequent weiterentwickelt werden, so z.B. das Konzept der „Integrierten Gesundheitsregionen“, wie es von der Grünen Bundestagsfraktion sehr konkret vorgeschlagen wurde und in verschiedenen Regionen Deutschlands schon jahrelang vorgemacht wird. Mit der Einführung einer regionalen Metaebene oberhalb der einzelnen Leistungserbringer begegnet der Entwurf der Herausforderung, dass erfolgsorientierte Geschäftsmodelle kaum auf der Ebene der einzelnen Leistungserbringer möglich sind. Dabei spielen digitale Daten und deren Auswertung eine wichtige Rolle: Mit den Routinedaten der Krankenkassen zu Morbidität, zur Nutzung des Gesundheitssystems und zum Alter sowie mit den Daten aus der Sozialstatistik können Bezugsgrößen für die Gesamtheit der Bevölkerung definiert werden, um z.B. Verschiebungen des Eintrittsalters von bestimmten chronischen Erkrankungen, von häuslicher oder stationärer Pflegebedürftigkeit, von Dialysepflichtigkeit, Schlaganfällen, Oberschenkelhalsbrüchen usw., letztendlich damit vermeidbare vorzeitige Morbidität und Mortalität zu bestimmen.
Was messbar ist, kann verbessert werden – auch Prävention
Wir benötigen gemeinsame Metriken zur Bewertung von Gesundheitsinvestitionen, zur Messung ihrer Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum und das gesellschaftliche Wohlergehen sowie zur Gewährleistung der Widerstandsfähigkeit des Gesundheits- und Finanzsystems. Gleichzeitig wird damit der Blick über den Einzelnen hinaus auf die Bevölkerung gerichtet, und die deutschen Gesundheitsanbieter schließen damit an die internationale Entwicklung neuer populationsorientierter Versorgungslösungen und neuer Begriffe wie Value-Based-Healthcare, Accountable Care oder Alternative Payment Systems an, wie sie auf den G 7- wie G-20-Diskussionen und zuletzt u.a. auf dem World Economic Forum in Davos 2023 diskutiert wurden. Eine solche Transformation des grundlegenden Geschäftsmodells im Gesundheitswesen ist nur mit einem überparteilichen Ansatz umsetzbar. Dabei macht die fehlende Koordinierung und Problemorientierung schon in der Ampelregierung aktuell nicht allzu große Hoffnung, denn aktuell ist eine gemeinsame gesundheitspolitische Konzeption nicht zu erkennen. Sowohl die soziale Dimension als auch die notwendigen Umsetzungen von Innovationen – Digitalisierung und Anwendung der KI – könnten für alle Akteure eine wichtige Profilierung bedeuten. Das Ziel der Vermeidung einer deutlich über die 40-Prozent-Grenze hinausschießenden Belastung der Sozialbeiträge für Wirtschaft und Beitragszahlerinnen und -zahler ist eine Formel, hinter der sich alle im Parlament vertretenen demokratischen Parteien versammeln könnten.
Literatur
- Deutscher Bundestag – Ausschuss für Inneres und Heimat: Gesundheitsregionen – Aufbruch für mehr Verlässlichkeit, Kooperation und regionale Verankerung in unserer Gesundheitsversorgung. Bundesdrucksache 19/211881
- Gerlach J.-N., Hofmann S, Ostwald D. A. (2022), Handbuch zur Gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Darmstadt: WifOR, Im Auftrag des BMWK
- G20 Paper/WifOR Institute: If We Can’t Measure It, We Can’t Fix It. https://www.wifor.com/uploads/2021/05/G20_Health_Metrics_ROI_G20_B20.pdf [16.5.2023]
- Greive M., Klöckner J., Specht M.: Sozialbeiträge: 40-Prozent-Grenze bei den Beiträgen dürfte bald fallen – Darum werden die Sozialversicherungen so teuer. Handelsblatt-Online. https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/sozialpolitik-40-prozent-grenze-bei-den-beitraegen-duerfte-bald-fallen-darum-werden-die-sozialversicherungen-so-teuer/27928116.html [16.5.2023]
- OECD (2023): OptiMedis, regionally based integrated care model. https://read.oecd-ilibrary.org/social-issues-migration-health/integrating-care-to-prevent-and-manage-chronic-diseases_96f8a440-en#page1 [16.5.2023]
Kontakt zu den Autoren
Dr. Thomas Gambke, Vorsitzender des Grünen Wirtschaftsdialogs, Unternehmer und ehemaliger Bundestagsabgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen
Dr. h.c. Helmut Hildebrandt, Vorstandsvorsitzender OptiMedis AG
Prof. Dr. Dennis Ostwald CEO und Gründer WifOR Institute