Expertenforum der RS Medical Consult Wachstumspotenzial bei Ambulantisierung nicht ausgeschöpft

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Prof. Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) referierte beim Expertenforum „Ambulantisierung komplexer Leistungen: Neue Versorgungsformen durch Digitalisierung und sektorenunabhängigen Lösungen“ der RS Medical Consult. Sein Resümee: „Deutschland hinkt Europa weit hinterher und sieht enormes Wachstumspotenzial bei Ambulantisierung nicht ausgeschöpft.“

Prof. Josef Hecken ist Vorsitzender des Innovationsausschusses beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). – © Georg J. Lopata/G-BA

„Seit Jahren schon gilt der Grundsatz des § 39 Absatz 1 SGB V Ambulant vor stationär„, meint Prof. Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) beim Management-Seminar ‚ Ambulantisierung komplexer Leistungen‘ der RS Medical Consult. „Also immer da, wo eine vollstationäre oder stationsäquivalente Behandlung nicht geboten ist, soll eine Versorgung im häuslichen Umfeld oder im ambulanten Kontext erfolgen. Doch leider geschieht das in Deutschland nur in einem marginalen Umfang.“ Aus Sicht Heckens ist das Potenzial aber enorm: „In zehn Jahren werden 30 bis 40 Prozent der heute stationär erbrachten Interventionen ambulant durchgeführt werden.“ Wesentliche Treiber der Ambulantisierung sind dabei nach Ansicht des Gesundheitsexperten der medizinisch-technische Fortschritt, der demographische Wandel, eine zunehmend geforderte Patientenorientierung sowie die wachsende Ausgabendynamik.

Aktueller Stand des sektorenübergreifenden Modells

Hecken meint weiter: „Das Potenzial zeigt sich etwa im sektorübergreifenden Modell der Ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV) schon allein darin, dass die Ausgaben hierfür im Jahr 2020 bei Kliniken mit gerade mal 264 Millionen Euro und im ambulanten Bereich mit nur 52 Millionen Euro deutlich hinter dem Gesamtvolumen beider Sektoren von 120 Milliarden Euro zurückliegen.“ Besonders bei onkologischen sowie rheumatologischen Erkrankungen werden Leistungen inzwischen in enger Zusammenarbeit zwischen Vertragsärzten und Krankenhäusern erbracht. Auffallend seien dabei jedoch deutliche Unterschiede bei der Anzahl der zugelassenen Teams in den Bundesländern. „Noch nicht in allen Bundesländern scheint die Idee der Nutzung dieses Ambulantisierungspotenzials angekommen zu sein.“

Wachstumspotenziale nicht ausgeschöpft

Der Gesundheitsexperte fordert darüber hinaus, solche Potenziale verstärkt zu nutzen, die in anderen europäischen Staaten längst erschlossen sind. Denn viele europäische Nachbarländer nutzten inzwischen die Möglichkeiten ambulanter Behandlungen (AOP). So werde beispielsweise bei vergleichbarer Grundmorbidität eine Katarakt-OP in den Niederlanden nur noch zu 0,2 Prozent stationär durchgeführt – in Deutschland hingegen noch zu fast 17 Prozent; eine Mandelentfernung finde in den Niederlanden zu 26,5 Prozent und in Deutschland zu 90,7 Prozent in einer Klinik statt. Leistenhernien etwa würden hierzulande fast vollständig in Kliniken behandelt (99,7 Prozent; Niederlande: 17,2 Prozent). Und auch die Ausgaben zeigten, dass Kliniken nach wie vor stationäre Interventionen mit vielen „Ein-bis Zwei-Tages-Fällen“ präferieren. „Diese Zahlen zeigen ganz deutlich, dass wir hierzulande das enorme AOP-Potenzial nur unzureichend ausschöpfen“, beschreibt Prof. Hecken, „ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten, könnten wir sehr viele Eingriffe nicht mehr grundsätzlich, sondern nur ausnahmsweise stationär durchführen.“ So betrugen im Jahr 2020 die Ausgaben für ambulante Operationen im Krankenhaus knapp 600 Millionen Euro im Vergleich zu über zwei Milliarden Euro im vertragsärztlichen Bereich. „Hinzu kommt, dass der § 115b mit seinem viel zu engen Katalog der ambulant erbringbaren operativen Leistungen in den vergangenen 15 Jahren nur marginal überarbeitet worden ist. Gefordert ist daher eine substanzielle Erweiterung des AOP-Kataloges und eine Differenzierung nach Schweregrade der Fälle.“ Nach Auffassung von Prof. Hecken braucht es hierzu jedoch weitere Anreizsysteme. Der Gesetzgeber hat bereits geregelt, dass erbrachte AOP-Leistungen von einer Prüfung durch den Medizinischen Dienst (MD) ausgeschlossen sind, weiterhin wird bei Fehlen einer vollstationären Behandlungsbedürftigkeit eine Leistung zukünftig nur als vorstationäre Leistung vergütet und für jede beanstandete Krankenhausrechnung wird zudem ein Aufschlag fällig. Auch wenn die große Reform der Notfallversorgung in dieser Legislatur gescheitert ist, so wurde mit dem verpflichteten Ersteinschätzungsverfahren, das der G-BA entwickeln soll (Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz, § 120, Absatz 3b), ein nicht zu unterschätzender Baustein für die Weiterentwicklung eingeführt.

Prof. Hecken kam abschließend noch einmal auf seinen Aussagen vom Anfang zurück. So dürfe Ambulantisierung kein Selbstzweck sein. Seiner Ansicht nach müssen bei der Auswahl der Leistungen immer auch mögliche Risikopotenziale für den Patienten in seiner jeweiligen Situation im Blick genommen und die Leitlinien der medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften einbezogen werden. Nur so könne dem Qualitätsgebot des SGB V ausreichend Rechnung getragen werden.

Das nächste Management-Seminar der RS Medical Consult GmbH „MVZ zwischen Corona, neuem EBM, aktueller Rechtsprechung, potenziellen Rechtsänderungen und Digitalisierung“ findet am Dienstag, 26. Oktober 2021 im Live-Stream von 9 bis 17 Uhr statt. Weitere Informationen zum Seminar rund um MVZ, EBM und aktuelle Rechtssprechung in der Digitalisierung finden Sie mit einem Klick hierauf.