Krankenhausgesetzgebung
HCM schaut gemeinsam mit der Allianz Kommunaler Großkrankenhäuser (AKG) die kommenden Wochen genauer auf die Reformvorschläge zur Krankenhausreform und konfrontiert in Streitgesprächen Vertreter unterschiedlicher Entscheidungsebenen mit den einzelnen Bestandteilen der jeweils aktuellen Reformvorschläge.

Die Neugestaltung der Finanzierung der Krankenhäuser ist Teil des Konzepts der Regierungskommission zur Krankenhausreform. So sollen die Beträge aus den DRGs reduziert und das resultierende Budget für die Bereitstellung der Krankenhausinfrastruktur eingesetzt werden. Über dieses Konstrukt der Vorhaltepauschalen sprachen Bianca Flachenecker und Michael Reiter für Health&Care Management (HCM) zum Start mit
- Nils Dehne, Geschäftsführer der Allianz Kommunaler Großkrankenhäuser e. V. (AKG), und
- Dr. Simon Loeser, Unternehmensbereichsleiter Stationäre Versorgung bei der AOK Rheinland/Hamburg.
Wie stehen Sie denn grundsätzlich zum Reformvorhaben?
Dehne: Grundsätzlich ist eine Reform absolut zwingend und v.a. dringlich. Die wirtschaftliche Situation, in der sich die Krankenhäuser befinden, lässt gar keine anderen Maßnahmen zu als eine grundlegende Reform, die sowohl auf einer gewissen Strukturbereinigung fußt als auch auf einer Umstellung des Finanzierungssystems. Insofern begrüßen wir die Reformbestrebungen aus AKG-Sicht sehr.
Loeser: Ich sehe auch die absolute Notwendigkeit für Reformen – sowohl im Finanzierungs- als auch im Planungsbereich. Planung wurde ja in den letzten 20 Jahren gar nicht mehr aktiv betrieben. Das Thema war auch weitgehend entkoppelt von den Finanzierungsfragen. Dadurch hat der Wettbewerb die Kontrolle übernommen. Kombiniert mit dem Sachleistungsprinzip führt das zur Fehlsteuerung. So sind die Häuser eine Situation geraten, in der sie trotz hoher Drehzahl ökonomisch nicht mehr ihr Überleben sicherstellen können – und das schreit natürlich nach einer Reform.
Was es jetzt zu tun gilt, ist eine Entkopplung der hundertprozentigen Finanzierung vom Einzelfall.
Dr. Simon Loeser
Für Sie beide spielt also die Finanzierung eine Hauptrolle im Geschehen. Hier kommen Vergütung und Vorhaltepauschalen ins Spiel. Betrachten Sie Vorhalteleistungen für Krankenhäuser als nötig und sinnvoll?
Dehne: Eine Vorhaltefinanzierung sollte insbesondere jene Leistungen berücksichtigen, die nicht gut planbar und vor allen Dingen nicht gut standardisierbar sind. Der häufige Vergleich mit den Feuerwehren geht hier ins Leere, weil in jedem Krankenhaus einerseits planbare und gut standardisierbare Leistungen ablaufen, aber andererseits eben auch Notfälle. Aber auch das Patientenkollektiv macht einen Unterschied, ob die Vorhaltefinanzierung attraktiv oder weniger attraktiv ist.
Loeser: Aus meiner Sicht ist der Begriff Vorhaltefinanzierung irreführend. Was es jetzt zu tun gilt, ist eine Entkopplung der hundertprozentigen Finanzierung vom Einzelfall. Das Problem ist, dass wir die fixen Betriebskosten im Moment auch über die Fallpauschalen finanzieren. Das heißt, dass die Kosten, die entstehen, um ein Krankenhaus aufnahmebereit zu halten, derzeit ebenfalls fallabhängig vergütet werden. Das hat den Effekt, dass die Krankenhäuser gar nicht anders können als mit einer hohen Schlagzahl Fälle zu erbringen, egal ob das medizinisch notwendig ist. Die Funktion der Vorhaltefinanzierung ist, dass die Finanzierung fixer Betriebskosten eben nicht mehr am Fall hängt oder zumindest zum größten Teil nicht mehr über den Fall abgewickelt wird. Stattdessen sollen die Krankenhäuser im Grunde vor Eintreffen des ersten Patienten schon wissen, dass sie gewisse strukturelle Anforderungen finanziert bekommen – und dann eben nur noch über die Finanzierung der variablen Betriebskosten ihre laufenden Kosten auch decken können. Dies würde ein zentrales Problem der Versorgung in Deutschland seit Einführung des DRG-Systems beheben!
Das ausgeprägte Mengenwachstum hat dazu geführt, dass die Mitarbeitenden im Krankenhaus unter Stress sind, dass man nicht viel Zeit für die Patienten und Patientinnen hat, dass manche von ihnen mit der Versorgung im Krankenhaus auch nur mittelmäßig zufrieden sind. Bisher läuft der Fallzahlmotor immer weiter – und wir würden durch die Vorhaltefinanzierung einfach das Tempo gerne rausnehmen und das Ganze bedarfsgerecht entschleunigen. Dafür ist gar nicht so sehr die Zweckbindung der Vorhaltefinanzierung maßgeblich, sondern, dass wir über eine Sockelfinanzierung von der hundertprozentig fallbezogenen Finanzierung runterkommen.
Dehne: Zur Bedarfsgerechtigkeit: Eine tragfähige Vorhaltefinanzierung geht davon aus, dass die Strukturen dem Bedarf entsprechen und ein geringer Anreiz besteht, unnötige Behandlungen zu ermöglichen. Das setzt allerdings auch eine sehr detaillierte Kalkulation der Vorhalteleistungen voraus, um den richtigen Anreiz zu schaffen, Behandlungen noch durchzuführen, auch wenn die variable Vergütung dafür geringer ist. Das ist von der Kalkulation und der Herleitung alles andere als trivial.
Die Probleme werden also nur auf ein neues Instrument verschoben.
Nils Dehne
Um wie viele Säulen geht es bei der Finanzierung?
Loeser: Es handelt sich um vier Säulen. Wir werden das Pflegebudget nicht wegbekommen, so schlecht ist auch konzipiert ist und obwohl es ebenfalls Fehlanreize setzt. Also Pflegebudget, Investitionen, fixe Betriebskosten und variable Betriebskosten.
Eine kostenbasierte Abgrenzung der fixen Betriebskosten ist ein hoffnungsloses Unterfangen, weil sich an der Auftrennung von fixen und variablen Betriebskosten im Krankenhaus schon viele Autoren die Zähne ausgebissen haben. Deswegen begrüße ich den Vorschlag der Regierungskommission, hier pragmatisch und normativ dranzugehen mit einem fixen Prozentsatz. So kommt gar nicht erst eine Manipulationsanfälligkeit ins System, sondern jeder weiß, wo er dran ist.
Einzelne Ausnahmetatbestände müssen wir dort schaffen, wo die variablen Betriebskosten den überwiegenden Teil der Fallpauschale ausmachen. Cochlea-Implantate sind ein Beispiel; hier kosten die Implantate schon mehr als variabel vergütet würde.
Dehne: Ich bin auch fest davon überzeugt, dass das gar nicht realistisch und detailliert zu kalkulieren ist. Wobei wir darauf achten müssen, durch diesen pauschalen Ansatz und eine relativ kleinteilige Herleitung der Vorhaltebudgets anhand von Leistungsgruppen nicht neue Fehlanreize zu schaffen. Innerhalb einer Leistungsgruppe ist ja gar keine homogene Leistung mehr zu identifizieren; es könnten Leistungsbereiche von unterschiedlicher Attraktivität entstehen.
Loeser: Ja, das ist bereits Alltag im Kontext der DRGs, etwa durch sehr unterschiedliche Patientenklientele.
Dehne: Die Probleme werden also nur auf ein neues Instrument verschoben. Daher sollte für die Vorhalteleistungen ein pauschaler Ansatz gewählt werden – ggf. anfangs über die Level, mit einer späteren Detaillierung, um möglichst wenig Verwerfungen innerhalb der Leistungsgruppen und -bereiche zu haben.
Loeser: Ich halte das für hoch problematisch, weil man auf Level-Ebene überhaupt keinen Bedarf berechnen kann – also wie viele Level-2-Häuser braucht man denn pro Million Einwohner usw.? Der DKG-Reformvorschlag sieht dagegen vor, die Vorhaltefinanzierung an die Notfallstufen zu koppeln. Damit würden die Krankenhäuser selber definieren, wieviel Vorhaltefinanzierung sie erhalten. Wir kommen aber nur zu einer bedarfsgerechten Versorgung, wenn die Vorhaltefinanzierung von den Planungsentscheidungen der Länder abhängt und nicht davon, ob ein Krankenhaus einen Hubschrauberlandeplatz einrichten oder eine gewisse Anzahl von Fachabteilungen vorhalten möchte.
Wie sehen Ihre Vorstellungen zu konkreten Prozentsätzen aus?
Dehne: Die Differenzierung der Regierungskommission ist sachgerecht. Sie hat versucht, zu berücksichtigen, dass gewisse Bereiche deutlich stärker unplanbar sind, also viel stärker einer Bereithaltungsrolle entsprechen. Ob die Differenzierung ausreicht, wage ich persönlich zu bezweifeln. Aber mit dem Ansatz kann man erst mal leben. Die Höhe halte ich für legitim, weil differenziert wird zwischen dem, das überwiegend planbar ist und jenem, wo mehr als 50 Prozent nicht planbar sind.
Loeser: Ich vertrete die „10-20-30-40-These“. Wir sollten die Vergütung aus zehn Prozent Investitionen, 20 Prozent Pflegebudget, 30 Prozent Vorhaltung und 40 Prozent über die Fallpauschalen zusammensetzen. In eine solche Größenordnung kommen wir bei der Vorhaltung mit dem Vorschlag der Regierungskommission fast; ich hätte mir zur Beseitigung der Fehlanreize aber noch einen etwas mutigeren Schritt gewünscht.
Dehne: Bei den Fachkliniken ist das Dilemma, dass sie keiner Leveleinteilung unterliegen – hier finde ich es vertretbar, die Vorhaltefinanzierung auf ein Minimum zu reduzieren. Den potenziellen Optimierungseffekt beim Fixkostenanteil haben sie zu einem großen Teil bereits nachempfunden.
Loeser: Wir können nicht jede Besonderheit mit berücksichtigen … bei dem Konzept ist wichtig, dass erst einmal ein geschlossenes System entsteht und für die Häuser beim Start keine Erlösverwerfungen resultieren.
Wie lässt sich ein Qualitätsbezug schaffen – bei den bislang dürftigen Qualitätsmessungen?
Loeser: Qualitätsinitiativen etwa der Bund-Länder-Arbeitsgruppe 2014 sind ja weitgehend versandet – nachdem sie viel Bürokratie produziert haben. Es ist falsch, die Qualität an den Anfang des Planungsmodells zu setzen. Wir brauchen keine planungsrelevanten Qualitätsfaktoren, sondern wir brauchen eine qualitätsrelevante Krankenhausplanung. Qualität sollte der gewünschte Effekt der Krankenhausplanung sein und nicht deren dominierender Entscheidungsmaßstab. Primär über Qualitätshürden die Landschaft auszusieben führt sicher nicht zu bedarfsgerechten Strukturen. Qualität kann man z.B. planerisch und investiv auch dort fördern, wo es a priori vielleicht nicht danach aussieht, wo aber ein Bedarf besteht.
Dehne: Wir definieren, was Qualität als Ausgangsstruktur braucht. Die zweite Frage ist dann: Welche Versorgung wollen wir uns leisten? Ich habe wenig Hoffnung, dass die Ministerien jemals in der Lage sein werden, unabhängig von politischen Zyklen einen echten medizinischen Bedarf zu ermitteln. Also bleibt uns nichts andres übrig, als zu definieren, wieviel Geld wir für eine vorgegebene Struktur bereit sind zu investieren.
Loeser: Die AOK hat 2022 ein Konzept publiziert. Es ist gar nicht so schwer! Man muss den Ländern einige Rahmenbedingungen setzen, die sie zwar in ihrer Souveränität nicht einschränken, die aber klar vorgeben, welche Planungsschritte zu vollziehen sind, um die Bedarfe bundesweit in einer einheitlichen Form auszuweisen. Also z.B. ein einheitlicher Musterfeststellungsbescheid sowie ein klarer Populationsbezug bei der Dimensionierung des Leistungsauftrags. Das würde weder Konvergenz noch Ausnahmen noch Öffnungsklauseln erfordern.
Dehne: Die akademische Hürde dieser Populationsorientierung besteht darin, dass ganz viele weitere Parameter wie Bevölkerungsdichte, Bevölkerungsstruktur und Mobilität einfließen müssten. Damit die Versorgung nicht aufgrund von zu strikten Qualitätsanforderungen gefährdet wird, haben wir auf Basis des Regierungskommissionspapiers vorgeschlagen, die Levelzuordnung durch ein Scoring-Modell zu realisieren. Auf dieser Basis entstehen regional differenzierte Versorgungsstrukturen die jedoch eine einheitliche Mindeststrukturanforderung sicherstellen. Punktwertsystem festzumachen.
Die Levels werden die Versorgungsqualität nicht verbessern.
Dr. Simon Loeser
Führt all dies zu höherer Versorgungsqualität – oder eher zu einem großen Chaos und einer Leistungsreduktion, die bei den Patientinnen und Patienten spürbar wird?
Loeser: Die Levels werden nicht funktionieren, und sie verbessern nichts an der Qualität. Wir müssen nämlich mit den gewachsenen Strukturen erst mal den Übergang gestalten, weil die für einen umfassenden Wandel notwendigen 120 Milliarden an Investitionen nicht zur Verfügung stehen.
Dehne: Aber ohne Level werden wir keine Strukturbereinigung hinbekommen und ohne Leistungsgruppen keine Leistungskonzentration. Die beiden Systeme bedingen einander. Das Konstrukt ermöglicht eine sinnhafte Konzentration und Ausdifferenzierung der Standorte.
Und wenn sich einzelne Länder dagegen wehren …?
Loeser: Laut der AOK-Position können Länder zusätzliche Versorgungsstrukturen ausweisen, wenn sie die Qualitätsstandards erfüllen – allerdings dann nicht zulasten Dritter, also ohne Vorhaltefinanzierung.
Dehne: Dieser Ansatz wird keine Zustimmung finden, auch wenn das methodisch absolut vertretbar ist. Wir haben ein Interesse daran, eine Versorgung für alle gleichermaßen sicherzustellen. Die Bevölkerung anderer Länder darf nicht die überdurchschnittlichen Strukturen z.B. in Bayern mitfinanzieren. Auch die Investitionsquoten in den Ländern müssen sich für eine funktionierende Vorhaltefinanzierung annähern.
Wir haben einen unfassbaren Zeitdruck. (…) Ein schnelles Zielbild ist unumgänglich.
Nils Dehne
Wie wird sich das Reformvorhaben nun entwickeln?
Loeser: Ich glaube, dass wir finanzielle Übergangshilfen brauchen, weil der Reformzeitplan zu ambitioniert ist. NRW zeigt die Komplexität eines solchen Unterfangens. Die Überdruckineffizienz im System ist enorm; die ökonomischen Interessen der Häuser sind mit den Interessen der Patientinnen und Patienten nicht harmonisiert, das müssen wir mit dieser Reform korrigieren. Wir haben das drittteuerste Gesundheitssystem der Welt, schneiden aber beim Outcome z.B. hinsichtlich Prävalenz chronischer Krankheiten, Prävention oder Lebenserwartung nicht gut ab. Wir sind gefangen in diesem System der Komplexität und Konflikte. Machen wir uns auf einen langen Weg gefasst!
Dehne: Ich glaube, dass die Reform in jedem Falle kommen wird. Im Moment sehen wir allerdings eine politische Dynamik, bei der nichts wirklich Gutes rauskommen kann. Die Ergebnisse aus den Bund-Länder-Abstimmungen bewegen sich auf einer noch höheren Abstraktionsebene als die Entwürfe der Regierungskommission. Nichtsdestotrotz haben wir einen unfassbaren Zeitdruck. Mit jedem Tag, an dem wir kein Zielbild vorgeben, verlieren wir Zeit. Gleichzeitig sollten wir heute kein Geld verteilen, das uns morgen für die Strukturanpassung fehlt. Das heißt, ein schnelles Zielbild ist aus meiner Sicht unumgänglich. Auf dieser Basis sollte die Umsetzung und Implementierung dann sinnvollerweise mit Augenmaß und Sorgfalt realisiert werden.