Impfen in Kliniken: Steigerung der Impfquoten bei Hochrisikogruppen

Die Impfquoten von Hochrisikopatienten und -patientinnen in deutschen Krankenhäusern bedürfen der Optimierung. In drei Schritten kann dies gelingen – inklusive dem Einsatz von Impflotsinnen und -lotsen. Impfungen stellen einen effektiven Schutz gegen impfpräventable Infektionskrankheiten, wie Influenza, Pneumokokken oder Masern, dar (Wagner et al. 2019, S. 495). Derartige Infektionskrankheiten führen bei ungeimpften Personen zu höheren Hospitalisierungs-, Komplikations- und Sterblichkeitsraten, wodurch direkte und indirekte Kosten für das Gesundheitssystem entstehen (Shiri et al. 2019, S. 1329 ff.). Ein Großteil der als „ambulant-sensitiv“ eingestuften Erkrankungen könnte durch eine Impfung vermieden werden (Kurte & Blankart 2019, S. 278). Insbesondere Patientinnen und Patienten unter einer hämatologischen und/oder onkologischen immunsupprimierenden Therapie (Hochrisikogruppen) profitieren aufgrund eines erhöhten Infektions- und Komplikationsrisikos von Impfungen (Wagner et al. 2019, S. 494 ff.). Zudem können Impfungen die Ausbreitung von Erregern verhindern sowie – bei ausreichend hohen Impfquoten – bei bestimmten Infektionskrankheiten einen Gemeinschaftsschutz der Bevölkerung gewährleisten, wodurch besonders vulnerable Personengruppen geschützt werden (Laws et al. 2020, S. 589). Alle Ärztinnen und Ärzte dürfen impfen In Deutschland werden Impfungen zu rund 90 Prozent im ambulanten Setting im Rahmen der hausärztlichen Versorgung durchgeführt (Sprenger et al. 2022, S. 11). Durch Inkrafttreten des Masernschutzgesetzes (1. März 2020) wurde der Leitsatz „Alle Ärzte und Ärztinnen dürfen impfen“ mit dem Ziel des „universellen Impfens“ in eine gesetzliche Regelung überführt: Jeder Arztbesuch soll genutzt werden können, den Impfstatus zu überprüfen und fehlende Impfungen nachzuholen (Deutscher Bundestag 2019, S. 34). Fehlende Impfziele in Deutschland In Deutschland wird im internationalen Vergleich zu wenig geimpft. Die für die jeweiligen Personengruppen empfohlenen Impfungen richten sich nach den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) des Robert Koch-Instituts (RKI). Die Impfsurveillance des RKI zeigt u. a., dass Deutschland das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gesetzte Ziel einer Influenza-Impfquote von 75 Prozent bei älteren Personen verfehlt (Jorgensen et al. 2018, S. 443). In der Impfsaison 2021/22 lag die Impfquote bei den über 60-Jährigen bei nur 43,3 Prozent, wohingegen Dänemark das WHO-Ziel mit 78 Prozent sogar übertrifft (OECD 2022; Robert Koch Institut 2022, S. 4). Die Impfung gegen Pneumokokken, welche die STIKO allen Personen ab 60 Jahren empfiehlt, weist mit 23,3 Prozent in der Bevölkerungsgruppe der 60 bis 74-Jährigen eine deutlich niedrigere Impfquote auf. Auch bei weiteren Routineimpfungen im Erwachsenenalter, wie Tetanus (Standardimpfung ≥ 18 Jahre, Impfquote 54,4 Prozent) oder Herpes Zoster (Standardimpfung ≥ 60 Jahre, Impfquoten: erste Impfdosis 11,5 Prozent, zweite Impfdosis 7,7 Prozent) werden die STIKO-Empfehlungen nur im eingeschränkten Umfang umgesetzt (Robert Koch-Institut 2022, S. 6). Negativ wirkt sich zudem aus, dass für die meisten Impfungen keine expliziten Impfziele existieren. Für Hochrisikogruppen, u. a. immunsupprimierte Patientinnen und Patienten, werden von der STIKO besondere Impfempfehlungen ausgesprochen. Allerdings lag auch in diesen vulnerablen Gruppen die Influenza-Impfquote 2021/22 nur bei 35,4 Prozent (Robert Koch-Institut 2022, S. 10). Ferner erhielten nur drei bis elf Prozent der Behandelten unter einer immunsupprimierenden Therapie innerhalb der ersten zwei Jahre nach Erstdiagnose (zwischen 2015–2017) eine Pneumokokken-Impfung (Sprenger et al. 2022, S. 7). Die Impfung von immunsupprimierten Patientinnen und Patienten erfordert eine individuelle Bewertung, da die Wirksamkeit einer Impfung aufgrund der Grunderkrankung oder der Immunsuppression herabgesetzt sein kann (Niehues et al. 2017, S. 676). Eine Gabe von Lebendimpfstoffen kann z.B. bei diesen Menschen kontraindiziert sein, sodass eine Entscheidung im Einzelfall getroffen werden muss. Dagegen können Totimpfstoffe grundsätzlich während der gesamten immunsuppressiven Therapie eingesetzt werden; für einen optimalen Impfschutz sollte die Immunisierung jedoch möglichst vor Aufnahme der Therapie abgeschlossen sein (Wagner et al. 2019, S. 497). In den STIKO-Empfehlungen sowie ergänzenden Anwendungshinweisen wird die besondere Versorgungssituation von Hochrisikogruppen berücksichtigt, jedoch können weitere Faktoren, wie fehlende Informationen zu Indikationen und Kontraindikationen der Impfungen bei Hochrisikogruppen oder mangelnde Erfahrungen mit der Wirkungsweise des Immuntherapeutikums, Gründe dafür sein, dass gerade diese Personen nicht ausreichend geimpft werden (Laws et al. 2020, S. 589; Niehues et al. 2017, S. 674; Wagner et al. 2019, S. 495). Folglich ist die Erhebung des Impfstatus vor Aufnahme einer immunsupprimierenden Therapie von besonderer Bedeutung, um Impflücken schließen zu können. "Die Steigerung der Impfquoten von onkologischen Patientinnen und Patienten erfordert eine strukturierte und systematische Versorgungssteuerung." Prof. Dr. Florian Kron Instrumente zur Verbesserung der Impfquoten Maßnahmen zur Steigerung von Impfquoten richten sich primär darauf, die Aufmerksamkeit für das Impfen zu fördern sowie die Durchführung von Impfungen zu erleichtern und das Wissen über Impfungen zu verbessern (Brombacher et al. 2021, S. 47 f.; Sprenger et al. 2022, S. 12 f.). Die Versorgungspfade von (onkologischen) Hochrisikogruppen sind komplex und geprägt von Individualität, Interdisziplinarität und Intersektoralität. Daher gilt es – unter Berücksichtigung der individuellen Therapie- und Erkrankungssituation – die aus medizinischen Gründen infrage kommenden Personen zum unter medizinischen Überlegungen passenden Zeitpunkt zu impfen. Das Erheben des Impfstatus und das Impfen im Krankenhaus stellt eine Möglichkeit dar, um Impflücken bei den Hochrisikogruppen zu schließen. Dies kann neben dem stationären Aufenthalt z.B. auch in der Krankenhausambulanz im Rahmen von Routineuntersuchungen oder Vor- und Nachuntersuchungen geschehen. Impflotsinnen und -lotsen für Hochrisikogruppen Zur Steigerung der Impfquoten von Hochrisikogruppen – und damit zur Vermeidung von Infektionen und schweren Krankheitsverläufen – kann im Krankenhaus-Setting ein dreistufiges Konzept umgesetzt werden (s. Abbildung 1). In etwa könnte der Aufbau eines strukturierten Impfkonzeptes wie folgt umgesetzt werden: In einem ersten Schritt kann die Einführung von Checklisten dabei unterstützen, den Impfstatus bei der Aufnahme in die ambulante oder stationäre Krankenhausbehandlung oder vor einer diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme strukturiert zu erheben. Um Aufmerksamkeit für die Relevanz des Impfens zu schaffen sowie die Interaktion zwischen Patientinnen und Patienten und medizinischem Fachpersonal zu fördern, bieten sich neben der Aushändigung von adressatengerechten Informationsmaterialien regelmäßige Fortbildungen der Ärzteschaft bezüglich der Impfempfehlungen bei Hochrisikogruppen sowie die Thematisierung der patientenindividuellen Impfindikation in Tumorboards an. Zudem sollte die regelhafte Abfrage des Impfstatus in die krankenhausindividuellen Standard Operation Procedures (SOP) aufgenommen werden, um bei der Umsetzung im täglichen Ablauf zu unterstützen. Ergänzende, niedrigschwellige Tools können dazu beitragen, dass Informationen zum Impfstatus zwischen den verschiedenen Versorgungsebenen nicht verloren gehen. Ein Beispiel ist die Aushändigung von „Impfcheckkarten“ an die Patientinnen und Patienten (Kiderlen et al. 2022, S. 466). In einem zweiten Schritt wird das Kernelement des Konzeptes umgesetzt. Hierbei kann eine Orientierung an etablierten Lotsenkonzepten, wie die OncoCoaches, erfolgen. Demnach koordiniert eine zentrale Ansprechperson – Impflotsinnen und -lotsen – die Impfungen im Krankenhaus. Sie beraten Hochrisikopatientinnen und -patienten zum Impfstatus, indem der Impfpass geprüft und Wissen zu notwendigen Impfungen vermittelt wird (s. Abbildung 2). Die Rolle von Impflotsinnen und -lotsen kann z. B. durch Pflegefachkräfte, Case Manager, medizinische Fachangestellte (MFA), medizinisch-technische Assistentinnen und Assistenten (MTA) in den Krankenhausambulanzen oder bereits anderweitig tätige Lotsinnen und Lotsen übernommen werden. Diese erhalten regelmäßig Schulungen, um die Verantwortung und die Organisation rund um das Thema „Impfen“ zu übernehmen. Sofern die Lotsinnen und Lotsen über eine entsprechende Aus- bzw. Weiterbildung verfügen, ist eine Übernahme der Impfung möglich, wobei das zuständige ärztliche Personal gemäß rechtlichen Vorgaben stets die Indikationen und Kontraindikationen prüft sowie die Aufklärung und Anamnese durchführt (Robert Koch-Institut 2017). Medizinisches Fachpersonal aus dem Gebiet der Hämatoonkologie und Infektiologie hat im Rahmen des Projektes „Fortbildungsveranstaltungen zum Thema Impfen im Krankenhaus“ erste Erfahrungen für die Umsetzung des Impflotsenkonzeptes in Anlehnung an den Leitfaden „Impfen in Kliniken – Der Praxisleitfaden für die Patientenversorgung mit Praxistipps“ gesammelt. Die Fortbildungen und der Leitfaden stießen dabei auf positive Resonanz. In einem dritten Schritt sollte ein verpflichtendes Abfragefeld zum Impfstatus in Form eines elektronischen Reminders sowie die spezifischen Impfempfehlungen z.B. im Krankenhausinformationssystem (KIS) oder in der elektronischen Patientenakte (ePA) integriert werden. Hierdurch können systematisch Impflücken erkannt sowie die Zielerreichung der Maßnahmen evaluiert werden. Zudem sollte die Kompetenz- und Wissensvermittlung zum Thema Impfen stärker im Medizinstudium sowie in der Aus- und Weiterbildung medizinischer Fachberufe und in der Facharztweiterbildung fokussiert werden. Eine Thematisierung der Impfprävention als fester Bestandteil von medizinischen Leitlinien ist zu empfehlen. Die Impfquoten in Deutschland sind im Allgemeinen und insbesondere für Patientinnen und Patienten mit einer Immunsuppression nicht zufriedenstellend. Für diese besonders gefährdeten Hochrisikogruppen, die im Krankenhaus behandelt werden, fehlen nicht nur strukturelle Voraussetzungen für das Impfen, wie eine systematische Erfassung des Impfstatus, sondern das Krankenhauspersonal ist auch oft unzureichend über die Impfindikationen informiert. Als mögliches Lösungskonzept zur Steigerung der Impfquoten – gerade im Krankenhaus für Hochrisikogruppen – können Impflotsinnen und -lotsen im Krankenhaus eine wichtige Funktion übernehmen und einen niedrigschwelligen Zugang zu Impfungen ermöglichen. In einem nächsten Schritt sollte eine Pilotierung und Evaluierung des Impflotsenkonzeptes in einer Klinik erfolgen, um Erfahrungen in der Praxis zu sammeln. Diese wiederum können genutzt werden, um auch strukturell die notwendigen Veränderungen im Konsens mit allen Beteiligten anzustoßen und in der Fläche zu etablieren. Literatur Brombacher F. et al. (2021) Impfen gegen Influenza – Internationale Bestandsaufnahme und Perspektiven für Deutschland. Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitwesen, 161 (2021), 42-49. Deutscher Bundestag (2019) Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz). Drucksache 19/13452. Jorgensen P. et al. (2018) How close are countries of the WHO European Region to achieving the goal of vaccinating 75% of key risk groups against influenza? Results from national surveys on seasonal influenza vaccination programmes, 2008/2009 to 2014/2015. Vaccine, 36 (4), 442-452. Kiderlen T. et al. (2022) Raising immunization rates among cancer patients - a controlled evaluation of the Easy Vaccination in Oncology (EVO) strategy. Deutsches Ärzteblatt International, 199, 466-467. Kurte M. S., & Blankart K. (2019) Ambulant-sensitive Krankenhausfälle in Deutschland – Abgrenzung, Prävalenz und Kosten. Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement, 24 (6), 277-291. Laws H.-J. et al. (2020) Impfen bei Immundefizienz. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz, 63 (5), 588-644. Niehues T. et al. (2017) Impfen bei Immundefizienz: Anwendungshinweise zu den von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Impfungen (I) Grundlagenpapier. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 60 (6), 674-684. OECD (2022) Influenza vaccination rates (indicator). https://data.oecd.org/healthcare/influenza-vaccination-rates.htm#indicator-chart [15.11.2022]. Robert Koch-Institut (2017) Rechtliche Fragen zum Impfen. https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/AllgFr_RechtlFragen/faq_impfen_RechtlFragen_ges.html [30.12.2022]. Robert Koch-Institut (2022) Epidemiologisches Bulletin 49/2022 – Impfquoten bei Erwachsenen in Deutschland. https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2022/Ausgaben/49_22.pdf?__blob=publicationFile [05.01.2023]. Shiri T. et al. (2019) Pneumococcal Disease: A Systematic Review of Health Utilities, Resource Use, Costs, and Economic Evaluations of Interventions. Value in Health, 22 (11), 1329-1344. Sprenger R. et al. (2022) Pneumococcal vaccination rates in immunocompromised patients in Germany: A retrospective cohort study to assess sequential vaccination rates and changes over time. PLoS One, 17 (3), e0265433. Wagner N. et al. (2019) Impfen bei Immundefizienz. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 62 (4), 494-515. Kontakt zur Autorin und den Autoren: Melina Sophie Kurte, Senior Consultant HEOR VITIS Health-care Group, Universität Duisburg-Essen, m.kurte@vitis-healthcare.com Alexander Völker, Senior Manager Market Access Vaccines, Pfizer Pharma GmbH, Kontakt: alexander.voelker@pfizer.com Prof. Dr. Florian Kron, CEO, Managing Director VITIS Healthcare Group, FOM Hochschule für Oekonomie & Management, f.kron@vitis-healthcare.com

Impfen in Kliniken: Steigerung der Impfquoten bei Hochrisikogruppen

Reimbursement im Überblick

Digitale Gesundheit von A bis Z

Themenwelt Pflege: Alles im Blick

Kostenloser Newsletter