Interview mit Dr. Markus Vogel „Spracherkennung wird Prozesse neu gestalten“

Dr. Markus Vogel, Chief Medical Information Officer (CMIO) und Senior Director Medical Accounts DACH, Nuance Communications. Als eine Art Workflowassistent beschreibt Dr. Markus Vogel die Technologie zur Spracheingabe im Gespräch mit HCM. Denn sie könne nicht nur Sprache in Text verwandeln, sondern auch Informationen über Patienten und Patientinnen sofort verfügbar machen und Prozesse verbessern. Herr Dr. Vogel, durch Ihre langjährige klinische Tätigkeit haben Sie selbst erlebt, wie Belastungen des Gesundheitspersonals durch technologisierte Prozesse abgemildert werden können. Inwieweit verbessert Spracherkennung die Prozesse in Healthcare-Einrichtungen? Dr. Vogel: Meine Erfahrungen in der Praxis haben mir gezeigt, dass es nie das Gespräch mit den Patientinnen und Patienten ist oder die Behandlung, die Probleme bereitet, sondern die Prozesse. Wenn z.B. etwas irgendwo eingegeben werden muss oder Informationen gesucht werden, holen sich Mitarbeitende im Gesundheitswesen oft die Informationen übers Telefon – das ist aber nur Mittel zum Zweck und kostet viel Arbeitszeit. Hier fehlen oft Tools oder Strategien, um es anders zu machen. Die Verbindung von Informationen und Sprache liegt meines Erachtens in der DNA des pflegerischen und medizinischen Personals. Sie kommunizieren gerne, das ist auch Teil ihrer Arbeit. Der Begriff Spracherkennung müsste geöffnet werden, denn er kann bedeuten, dass Text auftaucht, aber er sollte auch bedeuten, dass ein Apparat etwas versteht. Der Begriff Workflowassistent wäre hier besser, denn es geht auch darum, Prozesse zu verbessern und nicht nur Text zu erkennen. Auf den KHZG-Fördertatbestand drei, die digitale Dokumentation von Pflege- und Behandlungsleistungen, entfielen die meisten Anträge. Wieso ist Spracherkennung für Kliniken wichtig? Dr. Vogel: Spracherkennung ist in meinen Augen eine Schlüsseltechnologie – es ist etwas, das einfach da sein muss. Noch dazu ist die Reife der Technologie jetzt vorhanden, daher sollte die Infrastruktur allen zur Verfügung stehen. Radiologen nutzen sie schon länger, aber andere Kliniker hatten damit noch keine Berührungspunkte. Spracherkennung ist meines Erachtens völlig zu Recht so prominent im KHZG enthalten. Haben Sie Beispiele, in denen Spracherkennung konkreten Nutzen für das Personal bringt? Dr. Vogel: Der Nutzen ist überall da vorhanden, wo Informationen sofort verfügbar sein müssen, z.B. in einem Krankenhausinformationssystem. Hier darf nicht so viel Zeit vergehen, bis die Informationen für alle verfügbar sind. Auch Notaufnahmen sind ein gutes Beispiel. Hier gibt es nicht so viel Struktur, die Patientenstorys wechseln ständig. Der Befund soll die Fachsprache wiedergeben, Inhalte müssen dem weiterbehandelnden medizinischen und pflegerischen Personal bei Aufnahme auf die Station sofort zur Verfügung stehen. Hier ist es auch wichtig, dass sich die Technologie auf die Sprechenden adaptieren kann, also u.a. verschiedene Dialekte versteht, und mit einem hohen Hintergrund-Geräuschpegel klarkommt. Ein anderes Beispiel wäre die Palliativmedizin. Die Teams sind hier oft ambulant und stationär unterwegs – da braucht es eine Technologie, die intersektoral verfügbar ist, was z.B. über die Cloud möglich ist. Inwieweit hängen Künstliche Intelligenz und Cloud mit Spracherkennung zusammen? Dr. Vogel: Es ist eine adaptive Technologie. Wenn man das erste Mal eine menschliche Stimme an den Computer schickt, ist es für die Maschine nicht so einfach, das Audiosignal mit der sprachlichen Repräsentanz abzugleichen. Damit das funktioniert, müssen in Echtzeit individuelle Stimmen normiert werden sodass die KI sämtliche Stimmen mit der medizinisch allgemeinsprachlichen Word-Kombinations-Masse abgleichen kann. Man muss jetzt, zumindest bei Nuance, nichts mehr „trainieren“, da die heutige KI in Echtzeit lernt. Akustik, Grammatik, Semantik etc. werden über adaptive Algorithmen geformt. Fachsprache ist ein eigener Baustein der adaptiven Spracherkennung, die nutzerspezifisch erfasst werden kann. Um Repräsentanz der Sprache zu schaffen, kann sich die Technologie mithilfe der Cloud auf die Summe aller deutschen Sprechenden anpassen. So sind weniger individuelle Anpassungsvorgänge nötig, da Regeln abgeleitet werden können. Die KI trainiert sich mithilfe der Cloud schneller selber und das DSGVO-konform. Wie wird die DSGVO-Konformität garantiert? Dr. Vogel: Seit November 2021 steht eine DSGVO-konforme Sprachinfrastruktur in Deutschland zur Verfügung, die von allen genutzt werden kann. Spracherkennung ist in dieser Form erst seit letztem Quartal 2021 verfügbar. Einzelne Datenschützer lehnen die Technologie trotzdem immer noch ab. Landes- oder Bundesdatenschützer sollten hier konsequenter vorgehen. Worauf sollte das Management bei der Implementation von Sprach-erkennung mit Blick auf Changemanagement und Userakzeptanz achten? Dr. Vogel: Es ist wichtig, dass die User verstehen, wie Spracherkennung im Grundkonzept funktioniert. Dazu ist auch die Zusammenarbeit zwischen IT-Abteilung und medizinischem sowie pflegerischem Personal wichtig. So können Vorstellungen z.B. zu Layout und Interface ausgetauscht werden. Generell sollte das Management sensibel mit Prozessen umgehen, auch wenn Spracherkennung den kleineren Teil in Prozessen ausmacht, hat es die Möglichkeit, Prozesse nachhaltig zu ändern. Den Anwendern und Anwenderinnen sollte auch klar sein, dass die Stärke der Technologie die individuelle Einstellbarkeit ist. Diese braucht jedoch auch Vorgaben, die von den Usern gemacht werden müssen, damit die Technologie funktioniert und es nicht zu Frustrationsmomenten kommt. Je nachdem wie technologieaffin der User ist, braucht es dafür Schulungen. Gibt es technische Hürden? Dr. Vogel: Nein, es gibt keine technischen Hürden. Was sich in den letzten zehn Jahren geändert hat, ist die Verfügbarkeit. Man kann von allen Geräten auf die immer gleiche Technologie zugreifen. Ich sehe das als Gamechanger fürs Gesundheitswesen. Wie wird sich Spracherkennung aus Ihrer Sicht zukünftig entwickeln? Dr. Vogel: Die Spracherkennung und ihre Infrastruktur sind nun technologisch so weit, dass man Prozesse im Gesundheitswesen disruptiv unter Zuhilfenahme der Technologie neu gestalten kann. So eröffnen sich auch neue Möglichkeiten, z.B. beim Thema Robotik. Wenn ein Roboter in den Pflegearbeitsraum fahren soll, um ein Sterilgut zu holen, wird dies z.B. über eine Tastatur am Computer beauftragt. Hier sehe ich eine mögliche Zukunft in der Sprachsteuerung: Den Befehl einfach ins Smartphone zu sprechen. Spracherkennung hat den disruptiven Charakter, den es braucht, um Prozesse im Gesundheitswesen neu zu gestalten.Dr. Markus Vogel Das Interview führte Bettina Kleinsteuber. Nutzen von Spracherkennung am Beispiel einer Uniklinik Auf Organisationsebene wurde bei einer Uniklinik, an der 325 Ärztinnen und Ärzte das System im Januar 2022 mindestens einmal genutzt haben, untersucht, wie viele Arbeitszeitäquivalente sich einsparen lassen, wenn Tastatureingabe mit Spracheingabe verglichen wird. Insgesamt wurden mehr als 36 Millionen Zeichen diktiert, erkannt oder durch Autotexte hinzugefügt, was mehr als 20.000 DIN-A4-Seiten voller Text (1.500 Zeichen pro Seite) entspricht. Es wurden pro Seite drei Minuten Redezeit veranschlagt (1,5 Wörter pro Sekunde). Dadurch ergab sich gegenüber einem getippten Text (200 Anschläge pro Minute) eine Ersparnis von 4,5 Minuten pro Seite. Für die Universitätsmedizin bedeutet dies eine reale Prozessverbesserung, da durch Nutzung von Spracherkennung und Autotexten pro aktivem Nutzer oder aktiver Nutzerin Arbeitszeitäquivalente in Höhe von 0,8 Arbeitstagen (8 Stunden und 30 Minuten Pause) entstehen. Quelle: Studie Nuance 2022

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