7. Ambient Medicine Forum Pflege im Aufbruch: In Schwaben entsteht eine neue Leitregion für „digitale Pflege“

In Kempten stand Ende März zwei Tage die Zukunft einer digital unterstützten Pflege im Fokus. Die Kemptener Hochschule für angewandte Wissenschaften und Care Regio haben zum Diskurs eingeladen, an dem auch der Bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek teilgenommen hat und sich kritischen Fragen rund um Pflege und Digitalisierung gestellt hat.

Care Regio Kempten
Diskussionsrunde mit Gesundheitsminister Klaus Holetschek und der Frage: Wie entwickelt sich die Pflege künftig weiter? – © Hochschule Kempten/Katrin Rohde

Die Kemptener Initiativen haben das Potenzial, die Entwicklung der digitalen Pflege in Bayern und Deutschland voranzutreiben. Davon ist der Bayerische Gesundheits- und Pflegeminister Klaus Holetschek überzeugt. Er war Ende März selbst vor Ort, als im Margaretha- und Josephinen-Stift, unter seiner Schirmherrschaft das 7. Ambient Medicine Forum mit rund 250 Teilnehmenden stattfand. Unter dem Motto „Pflege im Aufbruch“ stand dort moderne Technologie im Fokus, die die Pflege im häuslichen und stationären Umfeld vereinfacht. In den Sessions

  • Pflege im Aufbruch
  • Pflege und Gesellschaft
  • Digitale Assistenzsysteme und
  • Daten für eine bessere Pflege

stellten Vertreterinnen und Vertreter aus Praxis, Forschung und Industrie moderne Technologien und Konzepte vor, die nicht nur Pflege unterstützen, sondern auch das selbst bestimmte Leben zu Hause von pflegebedürftigen Menschen ermöglicht. So ging es neben Therapie und Rehabilitation v.a. auch um Prävention und Wohnen.

Care Regio: digitale Pflege wird erlebbar

Im Zentrum des Events stand mitunter das Verbundprojekt Care Regio. Ziel von Care Regio ist es, die schleppende Digitalisierung auf regionaler Ebene voranzutreiben, indem es digitale Pflege erlebbar macht. „Mit Care Regio entsteht in Bayerisch Schwaben eine Leitregion für moderne Pflegetechnologien (Care Technology Hub). Dafür entwickeln wir nachhaltige Konzepte, die einerseits Pflegekräfte und pflegende Angehörige entlasten und Pflegebedürftige Menschen in der Häuslichkeit unterstützen“, erklärte Prof. Dr. Petra Friedrich, Leiterin des Verbundprojektes und Professorin an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Kempten für Elektrotechnik und das Lehrgebiet Ambient Assisted Living.

Care Regio

Care Regio ist ein vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege gefördertes Verbundprojekt. 

Die fünf Partner sind alle im Regierungsbezirk Schwaben beheimatet und durch die Beteiligung unterschiedlicher Institutionen interdisziplinär aufgestellt. Zum Team gehören

  • die Hochschule Kempten, die die Verbundkoordination inne hat,
  • die Hochschule Neu-Ulm,
  • die Hochschule Augsburg sowie
  • die Universität und das Universitätsklinikum Augsburg.

Care Regio vereint sechst Teilprojekte, u.a. den Pflege-Data-Lake und assistive Systeme.

Menschlichkeit und Hight-Tech verbinden

Rege Diskussion über die Zukunft der Pflege gab es bei der Podiumsdiskussion zur Eröffnung des Forums. In der Frage-Antwort-Runde moderiert von Klaus Schneider, Bayerischer Rundfunk, stellte sich Holetschek den Fragen von Vertreterinnen und Vertretern der Pflege. Dabei wurde deutlich: Die fehlende Menschlichkeit im System wird nicht mehr nur von Pflegekräften angeprangert, sondern zunehmend auch von der Politik gehört und in die Gestaltung einbezogen. Und so signalisierte Holetschek zwischen aktuellen politischen Handlungsfeldern wie Leiharbeit, Pflegepersonalbemessung und Entbürokratisierung, dass er sich in der Gestaltung des Gesundheitssystems einen „Mittelweg“ wünsche, der Menschlichkeit und High-Tech ermöglicht.

In den Gesprächen in Kempten zeigte sich, dass diese Menschlichkeit stärker handlungsanleitend wird, wenn es um die Entwicklung von Pflege in der zukünftigen Gesundheitsversorgung geht – eng verbunden mit einer gesteigerten Wertschätzung. Auf die Frage, wie v.a. Letzteres gelingen kann, kristallisierte sich aber keine einstimmige Antwort heraus. Auf Gestaltungsebene wird nach wie vor stark über den Faktor Gehalt und verlässliche Arbeitsstrukturen argumentiert, während sich die Pflege selbst ein Ende der Arbeitsverdichtung wünscht und Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, der Menschlichkeit im Miteinander mit den Pflegebedürftigen auch genügend Raum zu geben. „Es ist frustrierend, wenn ich den ganzen Tag über sehr viel geleistet habe, aber es einfach nicht genug war“, berichtete eine Pflegekraft aus einer Allgäuer Klinik. Sie gab auch zu bedenken, dass bei der Akademisierung der Pflege nachjustiert werden müsse, sodass eine akademische Pflegelaufbahn finanziell lukrativer wird.

Bedarf und Qualität in der Gestaltung Pflege berücksichtigen

Einen Denkanstoß gab es auch von Brigitte Bührlen, WIR Stiftung: Wenn es um die Gestaltung von Pflege geht, sollten ihrer Einschätzung nach Bedarf und Qualität im Fokus stehen. „Qualität ist in meinen Augen das Lächeln der Bewohnenden, das spielt aber in er Qualitätsmessung überhaupt keine Rolle.“ Denn für Gespräche, die dieses Lächeln hervorzaubern könnten, fehle nicht nur die Zeit, sondern auch die finanzielle Abdeckung. „Echte Zufriedenheit wird [in der Pflege] nicht finanziert“, kritisiert Bührlen, die sich auch dafür stark macht, gesellschaftliche Veränderungen hinsichtlich Care-Arbeit künftig stärker in der Neuausrichtung von Pflege zu berücksichtigen. So gebe es immer weniger Angehörige, die auch immer seltener vor Ort wären, um sich der Pflege von Familienmitgliedern widmen zu können oder zu wollen – immer bedenkend, dass dadurch auch das Risiko der Altersarmut steigt.

Wer bezahlt digital unterstützte Pflege künftig?

Prof. Dr. Johannes Zacher beleuchtete in seinen Vortrag die Frage der Zahlungsbereitschaft von digital unterstützter Pflege, die seiner Meinung nach auch jenseits der politischen Ebene beantwortet werden müsse. Sein Argument: „Der Nutzen entscheidet.“ Auf der Suche nach dem „Zahlmeister“ nennt Zacher mögliche Kostenträger: die Pflegekasse, Privathaushalte, die Kommune oder das Land. Aber wer auch immer hinterher in den Topf greife, wird laut Zacher die Frage nach dem tatsächlichen Nutzen stellen. Diesen sieht Zacher v.a. im Bereich von Information und Koordination bzw. der Darstellung von Prozessen. Menschen würden dabei auf jeden Fall nicht ersetzt werden können. Und dann gab Zacher doch noch eine Einschätzung ab, wer digital unterstützte Pflege finanziell tragen könnte – vorausgesetzt der Nutzen ist nachgewiesen: das Land. Allerdings nicht gänzlich, denn in den Regionen käme auch den Kommunen eine entscheidende Rolle zu. Daher lautet Zachers finale Prognose, dass die Finanzierung wohl eine Kombination aus Pflegekasse und Kommune mit Unterstützung des Landes werden könnte, die durch eine entsprechende Infrastruktur nutzwertige digitale Pflege in die Fläche bringen könnte.

Wie viel Technik verträgt Pflege? Eine Frage der Ethik

Prof. Giovanni Rubeis von Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswisseschaften in Krems beleuchtete die ethischen Herausforderungen der Digitalisierung in der Pflege und stellte die Frage in den Raum, wie viel Technik die menschenzentrierte Pflege tatsächlich verträgt und welche Rolle die Pflegekräfte dabei spielen. Die Antwort auf diese Frage ist komplex und vielschichtig und vermutlich noch nicht abschließend geklärt. Entscheidend ist aber, dass in der digitalen Transformation die entscheidenden Faktoren Werthaltung, soziale Interaktion sowie pflegerische Beziehung nicht in den Hintergrund rückt – ohne dabei zu einer Verteidigung des Humanen gegen die potenziell dehumanisierender Technik zu gelangen. Positioniere man die Pflege als Hüterin der Menschlichkeit, zeichne das laut Rubeis ein verkehrtes Bild, das die Pflege auf auf diesen einen Aspekt reduziere. Um dies zu vermeiden, empfahl Rubeis den Weg der Selbstermächtigung durch Digitalisierung, in die Pflege durch Teilhabe an der Entwicklung eine Aufwertung erfährt.

Friedrich zeigte sich nach zwei Tagen Veranstaltung zufrieden mit den Ergebnissen: „Es war eine rundum gelungene Veranstaltung. Die Teilnehmerzahlen sprechen für sich. Das Format ist gut angekommen, v.a. die Möglichkeit des Austauschs und Vernetzens wurde genutzt, um neue Kontakte zu knüpfen. Aber auch in Zukunft gilt: interessierte Praxispartner können sich sehr gerne bei uns melden. Es gibt Möglichkeiten zur Mitwirkung.“