Pflege und Gesellschaft Pflege geht alle an

Es ist im Grunde ganz simpel: Die Zahl der älteren und damit pflegebedürftigen Menschen nimmt weiter zu, die professionelle Pflege kann den steigenden Bedarf nicht decken. Es braucht Instrumente, die alle in die Verantwortung nehmen und zu Antworten auf die Zukunftsfrage Pflege drängen. Die Zukunft der Pflege braucht mutige Entscheidungen und gesellschaftliche Verantwortung. Verbesserte Lebensbedingungen, steigender Wohlstand und medizinischer Fortschritt tragen dazu bei, dass die Bevölkerung in Deutschland immer älter wird. So ist die Lebenserwartung in Deutschland auf 83,4 Jahre bei Frauen und auf 78,6 Jahre bei Männern gestiegen. Etwa 23.500 Menschen waren 2021 mindestens 100 Jahre alt, das sind circa 3.000 Personen mehr als das Jahr zuvor (Destatis 2022). Dabei bleiben die Menschen deutlich länger gesund, sind aktiv und mobil, weit über das Rentenalter hinaus. „Die jungen Alten“, so werden diese Alten, die immer jünger werden, heute bezeichnet (Silke van Dyk/Stephan Lessenich, 2009). Mit zunehmendem Alter allerdings steigt die Wahrscheinlichkeit der Pflegebedürftigkeit. Anhand der Lebenszeitprävalenz der Pflegebedürftigkeit lässt sich für eine definierte Population die Wahrscheinlichkeit, jemals im Leben pflegebedürftig zu werden, ermitteln. Hohe Pflegebedürftigkeit zwischen 80 und 84 Jahren Im Jahr 2019 waren 80 Prozent der Frauen und 73 Prozent der Männer, die im Alter von 80 bis 84 Jahren verstorben sind, pflegebedürftig. Für Frauen, die im Alter von 90 Jahren und mehr verstorben sind, lag die Pflegewahrscheinlichkeit bei nahezu 94 Prozent und höher und für gleichaltrige Männer bei 89 Prozent und mehr. Auch der Anteil der Pflegebedürftigen, die den Pflegegrad 4 oder 5 erreichen, nimmt im Zeitverlauf zu. Mit dem demografischen Wandel wird ein Anstieg der Pflegebedürftigkeit von derzeit 4,6 Millionen auf 6,0 Millionen im Jahr 2030 und auf 8,0 Millionen im Jahr 2050 prognostiziert (Barmer Pflegereport 2021). Dies ist sowohl einer Herausforderung für die pflegerische Versorgung als auch für deren Finanzierung. Es ist keine Zeit mehr für ‚Runde Tische‘ und mehrjährige ‚Modellprojekte‘. Vera Lux Demografischer Wandel: Knapp 500.000 Pflegekräfte fehlen Der demografische Wandel trifft aber auch die Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegewesen. Die starken Jahrgänge, die sogenannten Babyboomer, gehen in den nächsten Jahren in den Ruhestand. Schon heute ist ein Großteil des Pflegepersonals über 50, in Rheinland–Pfalz und Niedersachsen liegt der Anteil zwischen 34 Prozent bzw. 38 Prozent. Aufgrund der körperlichen Belastung wechseln viele bereits ab dem 60. Lebensjahr das Beschäftigungsfeld bzw. gehen in den Ruhestand, was die Situation zusätzlich verschärft. Das Institut der Deutschen Wirtschaft rechnet mit einem Mehrbedarf von 493.000 Pflegekräften in den nächsten 15 Jahren, circa 60 Prozent davon betreffen den stationären Bereich und circa 40 Prozent den ambulanten Bereich. Benötigt werden vor allem Pflegefachkräfte. Die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung ist daher, neben der Klimakrise, wohl einer der größten Aufgaben der Zukunft. Pflegebedarf ist eine Frage von Gesellschaft und Politik Die Profession Pflege wird diese Herausforderungen nicht alleine lösen können. Jahrzehntelang musste alles im schneller, effizienter, effektiver – wirtschaftlicher – werden. Die Personaldecke wurde immer dünner, die Aufgaben immer fragmentierter, die Zeit knapper und die Qualität schlechter. Die Pflege hat viele Defizite aufgefangen, fehlende Ressourcen ausgeglichen, Zusatzdienste geleistet, das Arbeitstempo erhöht. Jetzt sind die Kräfte aufgebraucht und auch die Geduld ist am Ende. Nun sind Politik und Gesellschaft gleichermaßen gefordert. Denn die Hinweise der Pflegeverbände und Institutionen auf den zunehmenden Fachkräftemangel und die hohe Belastung wurden in der Vergangenheit nicht ernst genommen, grundlegende Reformen nicht (rechtzeitig) beschlossen. Es wurden lediglich Symptome behandelt, die Ursachen aber nicht grundlegend angegangen bzw. Entscheidungen immer wieder hinausgeschoben. Die Folgen sind gravierend und auf die Schnelle nicht zu korrigieren. Die Frustration in den Pflegeberufen ist riesig, das Image, aufgrund der hohen Belastung, Schicht- und Wechseldiensten, geringe Personalschlüssel und zu wenig Zeit für Patientinnen und Patienten und für eine adäquate pflegerische Versorgung, schlecht. Dazu wenig Anerkennung und eine geringe berufliche Autonomie. Die Ausbildung hinkt dem europäischen Standard hinterher, die Akademisierung wird nur halbherzig vorangetrieben (Wissenschaftsrat 2022), ebenso wie die Erweiterung der Rollenprofile und Kompetenzen durch die Übertragung der Heilkunde und letztlich die mangelnde Mitsprache und Selbstverwaltung der Pflege. Es gibt nach wie vor kein klares Bekenntnis der Politik, die Pflegeberufe nachhaltig zu stärken und deren enormes Potential für die Sicherstellung der Versorgung adäquat zu nutzen. Was für eine Verschwendung. Das Potenzial der Pflege aber ist notwendig, will man die Sicherstellung der Versorgung nicht alleine auf dem Rücken der Familien, und hier wahrscheinlich ganz traditionell auf dem Rücken der Frauen, austragen. Schon heute gibt es Familien, wo das jüngste Familienmitglied gerade geboren und das älteste 100 Jahre und mehr ist. In fast jeder Familie werden ein bis zwei Personen Hilfebedarf haben, müssen gepflegt oder versorgt werden. Fehlt es an professioneller Pflege, an ehrenamtlichen und sozialräumlichen Strukturen, ist die Familie gefordert, muss zu Lasten der eigenen Berufstätigkeit die Pflege übernehmen. Und was ist mit denen, die keine Familie haben und alleine leben? Zukunftssichere Pflege braucht soziales Miteinander Wie stellt sich die Gesellschaft die Versorgung vor, was kann jeder selbst oder die Familie dazu beitragen, wie müssen kommunale Strukturen und Wohnräume geschaffen sein, um das soziale Miteinander und die Verantwortung füreinander zu stärken? Wie kann Digitalisierung für die Kommunikation, Beratung und Anleitung erfolgreich eingesetzt und für den Know-how-Transfer genutzt werden? Welche Verantwortung und Rolle kann die Pflege dabei übernehmen und wie muss die (akademische) Qualifizierung dafür aussehen? Es ist keine Zeit mehr für „Runde Tische“ und mehrjährige „Modellprojekte“, die am Ende ohne Ergebnis im Sande verlaufen. Inzwischen ist der Fachkräftemangel nicht nur in der Pflege angekommen, sondern auch in vielen anderen Branchen, wie man bei den Handwerkern, den IT-Fachleuten, den Erziehern und inzwischen auch bei den Ärzten spürt (Spiegel, Nr. 29, 2022). Der Wettbewerb um Fachkräfte und Auszubildende läuft auf Hochtouren. Nur wer attraktive Arbeitsbedingungen, eine angemessene Vergütung und berufliche Perspektiven bietet hat gute Chancen, Nachwuchs zu gewinnen. Eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie die Versorgung in der Zukunft sichergestellt und bezahlt werden kann, muss endlich erfolgen. Gesundheit ist ein hohes Gut und ohne Gesundheit ist alles nichts und sie hat ihren Preis, ebenso wie der Klimaschutz oder der Frieden in Europa. Die Pflege kann und will mehr Verantwortung in der Versorgung übernehmen. Die Politik und Gesellschaft muss das aber auch wollen. Pflege und Gesellschaft auf dem Hauptstadtkongress Prognosen des Statistischen Bundeamtes (2019) sagen voraus, dass der Anteil der Bevölkerung, die 67 Jahre und älter sind, von 19,5 Prozent im Jahr 2020 auf 26,3 PRozent im Jahr 2050 steigt und damit auch die Wahrscheinlichkeit, einmal pflegebedürftig zu werden. Professionelle Pflege allein wird den Versorgungsbedarf nicht abdecken können. Wer aber übernimmt dann die Versorgung und wo soll diese stattfinden? Wie stellen sich die Menschen die Versorgung überhaupt vor? Werden Technik, IT und Robotik so weit entwickelt sein, dass sie einen Teil übernehmen? Welchen Beitrag leistet das Umfeld und welchen Beitrag professionelle Pflege? Muss die Familie wieder mehr Pflichten übernehmen? Was kostet die Versorgung und wie wird sie bezahlt? Gemeinsam mit Experten suchen wir nach Antworten. Beim Deutschen Pflegekongress auf dem Hauptstadtkongress 2022 (HSK) wurde die Debatte angestoßen, fortgeführt wird sie beim HSK 2023 vom 14. bis zum 16. Juni 2023. www.hauptstadtkongress.de Kontakt zu Autorin: Vera Lux, Managementberatung Pflege und Health Care, luxvera@web.de

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