Interview mit Prof. Dr. Sabine Bartholomeyczik „Nach wie vor hohe Prävalenz von Mangelernährung“

Noch bis Ende des Jahres wird der Expertenstandard „Ernährungsmanagement zur Sicherstellung und Förderung der oralen Ernährung in der Pflege“ aktualisiert. Ein Thema, das immer mehr an Bedeutung gewinnt. HCM sprach mit Prof. Dr. Sabine Bartholomeyczik, wissenschaftliche Leiterin der zuständigen DNQP-Expertenarbeitsgruppe.Der Expertenstandard „Ernährungsmanagement zur Sicherstellung und Förderung der oralen Ernährung in der Pflege“ wird derzeit aktualisiert und soll im Herbst 2016 verfügbar sein.Als das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) im Mai 2010 den letzten Expertenstandard „Ernährungsmanagement zur Sicherstellung und Förderung der oralen Ernährung in der Pflege“ veröffentlichte, wurden maßgebliche Eckpfeiler für diese Versorgung gesetzt. Bis heute beschreiben allein 90 der insgesamt 222 Seiten umfassenden Publikationen en detail die Folgen von Mangelernährung inklusive ihrer gesundheitspolitischen Relevanz, aber auch Präventionsmöglichkeiten bis hin zu sinnlichen Anreizen bei Mahlzeiten und Mitbestimmung der Pflegebedürftigen. Viel hat sich in diesem Bereich seither getan, wenn man nur jüngste Konzepte für Menschen mit Demenz bedenkt. Geändert hat sich aber auch unser aller Essverhalten: Die Fastfood-Generation wird älter und wächst langsam in die Pflege rein, wie spezielle Trends etwa durch Vegetarier, Veganer und auch Paleo-Anhänger nachrücken. Für die laufende Aktualisierung des Expertenstandards, die Anfang 2017 vorgestellt werden soll, zeichnet Prof. Dr. Sabine Bartholomeyczik als wissenschaftliche Leiterin verantwortlich. HCM bat die versierte Pflegewissenschaftlerin um eine aktuelle Einschätzung zum Thema. HCM: Frau Prof. Dr. Bartholomeyczik, warum braucht es einen Expertenstandard für Ernährungsmanagement – ist Verpflegung nicht eigentlich selbstverständlich? Bartholomeyczik: Ein Verpflegungsangebot garantiert aber noch nicht, dass es angemessen ist. Es geht hier um Menschen, die der Pflege bedürfen, krank sind, häufig chronische Krankheiten und davon mehrere haben. Oft wollen oder können sie nicht essen und trinken. Nach wie vor gibt es eine hohe Prävalenz von Mangelernährung, neuere Ergebnisse weisen Häufigkeiten in Krankenhäusern je nach Fach von 15 Prozent bis 39 Prozent auf, in Altenheimen bis zu 48 Prozent und auch in der Häuslichkeit bis zu 35 Prozent. Pflegende sind in den Versorgungssettings am meisten mit den Betroffenen zusammen und haben die Aufgabe, Risiken zu erkennen und Wege zur Abhilfe zu gehen oder einzuleiten. Es geht also oft darum, wie dieses Angebot an- und aufgenommen wird. HCM: Bleiben wir beim exakten Titel: Wo liegen die Probleme bei Sicherstellung und Förderung der oralen Ernährung? Bartholomeyczik: Ein umfassendes Problem ist der Appetitmangel, der außerordentlich viele Gründe haben kann wie z.B. die Einnahme bestimmter Medikamente, Sorgen im Zusammenhang mit dem Krankheitsgeschehen, Schmerzen, Bewegungsmangel. Es gibt gesundheitliche Probleme, die die Nahrungsaufnahme erschweren, wie z.B. Schluckstörungen, schlechte Zähne oder Prothesen, kognitive Überforderung. Dies betrifft Ängste vor Unverträglichkeiten oder kulturspezifisch verbotene Speisen. Auch eine als unangenehm empfundene Umgebung, Geräusche, Tischnachbarn können zu unzureichender Nahrungsaufnahme führen. Schwierigkeiten liegen darin, dieses genauer zu erkennen, um die Gründe zu beheben. Hierzu gehört evtl. die Hinzuziehung eines Zahnarztes, einer Logopäden oder eines Ernährungsexperten oder des Kochs zur Veränderung des Angebots. Da Pflegende meist am längsten und engsten mit Betroffenen arbeiten, sollten sie mögliche Probleme als Erste erkennen, Hilfe leisten und sich darum kümmern. HCM: Wie erklären Sie sich die Häufigkeit von Mangelernährung? Bartholomeyczik: Ein allgemeines Problem stellt teilweise die Unterschätzung der Bedeutung der Mahlzeitengestaltung im Versorgungssystem dar. Im Krankenhaus wird sie oftmals ignoriert mit dem Argument, Folgen von Mangelernährung würden bei der kurzen Verweildauer ohnehin meist erst nach der Entlassung sichtbar. Dennoch kann eine Mangelernährung den Krankenhausaufenthalt verlängern, weil sie Krankheiten verschlimmern und Heilung herauszögern kann. In der Langzeitpflege wird die Unterstützung bei der Nahrungsaufnahme oft regelhaft an Hilfskräfte delegiert, was eigentlich nur nach differenzierter Einschätzung der Situation und regelmäßigem Monitoring durch Fachpersonen erfolgen sollte. Was ebenfalls häufig fehlt, ist eine gute Koordination zwischen Pflegenden, der Küche oder dem Caterer zur Bereitstellung notwendiger individueller Angebote. HCM: Mit zunehmenden Demenzdiagnosen wächst die Anforderung, dieser Klientel zu entsprechen. Profitieren auch weitere „Kunden“ von der Spezialisierung? Bartholomeyczik: Betrachtet man nur alte Menschen, so ist es ohnehin problematisch, eine strenge Grenze zwischen Pflegebedürftigen mit und solchen ohne Demenz zu ziehen. Auch das Syndrom Demenz zeigt eine sehr große Variationsbreite im Verhalten der Menschen mit dieser Krankheit, grundlegende Bedürfnisse, z.B. nach Erfüllung von Vorlieben und Gewohnheiten, unterscheiden sich nicht unbedingt zwischen den Gruppen. Im Zusammenhang mit Nahrungsangeboten, z.B. Fingerfood für Zwischenmahlzeiten oder mehr begleitende Unterstützung bei längeren Essenzeiten, sollten alle davon profitieren. Ähnliches gilt für das Konzept der „geschützten Essenszeiten“ insbesondere in Altenheimen. Zeiten, in denen keine anderen Aktivitäten im Wohnbereich vorgenommen werden sollten. Ablenkungen können bei Menschen mit Demenz problematisch sein, die „geschützten Essenszeiten“ dienen auch dazu, dass sich alle Mitarbeiter um die Bewohner kümmern können. Zeit und Ruhe beim Essen ist essenziell für Menschen mit und ohne Demenz. Schwierig wird es bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz und ebenso fortschreitender Mangelernährung. Die dabei häufig angedachte Magensonde (PEG) ist nur sehr reflektiert anzuwenden, im Vordergrund muss der mutmaßliche Wille des Betroffenen stehen. HCM: Zusammengefasst – worum wird es bei der Aktualisierung des Expertenstandards genau gehen? Bartholomeyczik: Grundlage für die Überarbeitung des Expertenstandards ist eine Überprüfung der in den letzten sechs Jahren seit der letzten Erarbeitung erschienenen Forschungsliteratur, von der es eine Menge gibt, mehr als 200 Quellen wurden bearbeitet. Das klingt so, als müsste es sensationell Neues geben. Das ist aber nicht der Fall. Auch wenn die letzte Entscheidung der Expertengruppe über Formulierungen noch nicht getroffen ist, so wird es voraussichtlich keine ganz neuen oder andere Empfehlungen geben als in der letzten Fassung des Standards, Details können sich ändern. HCM: Auch junge Menschen können unerwartet zum Pflegefall werden, dann jedoch mit einem anderen „Geschmacksgefühl“ als ältere Patienten. Wie kann, wie muss sich ein Ernährungsmanagement auf Burger, Pizza bzw. moderne Trends einstellen? Bartholomeyczik: Auch in Zukunft wird gelten, was heute bereits notwendig ist: Bei der Ernährung Gewohnheiten und Vorlieben erfassen und diesen, soweit dies irgend möglich ist, entgegenkommen. Das bedeutet, dass es in Zukunft vielleicht vermehrt vegane Angebote oder andere Kostformen geben muss. Zum Stichwort Fastfood sei angemerkt, dass die Rücksichtnahme auf individuelle Vorlieben jedoch nicht unbedingt zu ungesunden Angeboten führen sollte. Hier lassen sich vielleicht mancherlei Kompromisse finden. Carolina Heske

Interview mit Prof. Dr. Sabine Bartholomeyczik „Nach wie vor hohe Prävalenz von Mangelernährung“

Reimbursement im Überblick

Digitale Gesundheit von A bis Z

Newsletter Registrierung