Digitalisierung und Healthcare global

Digitalisierung kann überall dort, wo sie auf Menschen und deren Gesundheit trifft, zur gesteigerten Gesundheitsgerechtigkeit (Health Equity) beitragen. Diese Perspektive in Digitalisierungsprozesse zu inkludieren, kann die Wirkung digital optimierter Versorgungsstrukturen verstärken.
Männer im obersten Einkommensfünftel unterscheidet von Männern im untersten Einkommensfünftel in Deutschland ein Plus von zehn Jahren an Lebenserwartung (Huster, 2011). Zahlen wie diese sind nicht rein an das Geschlecht gebunden. Unterschiede in soziodemografischen und sozioökonomischen Determinanten, zu denen neben dem Geschlecht auch Alter, Bildung, Einkommen, Herkunft und Wohnort gehören, beeinflussen nicht nur den Gesundheitsstatus und damit auch die Lebenserwartung von Menschen, sondern auch die Auswirkungen des Transformationsprozesses ausgelöst durch die Digitalisierung. Digitalisierung an sich ist dabei zunächst ein neutraler Prozess, der je nach Gestaltung Ausgrenzung verstärken, aber auch soziale Gerechtigkeit fördern kann (Sturm, 2021). Fehlender oder unzureichender Zugang zu digitalen Gesundheitslösungen, aber auch ungleiche Nutzungsmöglichkeiten und -kompetenzen, stehen in einem Wirkungszusammenhang mit sozioökonomischen und soziodemografischen Determinanten. Die Kommission von Lancet und Financial Times fordert deshalb in ihrer Weisung (2021), dass digitale Technologien als Schlüsselfaktor für Gesundheit anerkannt werden – ähnlich ihrem Pendant der soziodemografischen und soziökonomischen Determinanten. Es brauche Maßnahmen gegen einen unfairen Zugang zu Gesundheitstechnologien, damit verbunden auch zu Gesundheitsinformationen sowie eine umfassende politische Steuerung, die eine durch Digitalisierung unterstützte gerechtere Gesundheitsversorgung ermöglicht.
Politische Awareness dringend erforderlich
Laut der Nationalen Gesundheitsziele Deutschlands (siehe gesundheitsziele.de) stellt gesundheitliche Chancengleichheit seit Beginn des nationalen Gesundheitszielprozesses in Deutschland vor rund 22 Jahren eine „Querschnittsanforderung bei der Auswahl, Formulierung, Evaluierung und Aktualisierung nationaler Gesundheitsziele“ dar. Dabei wird davor gewarnt, dieses komplexe Thema „bei der konkreten Entwicklung von Gesundheitszielen in den Hintergrund“ geraten zu lassen. Vor allem hinsichtlich der aktuellen Veränderungsbewegungen hin zu einer Neustrukturierung der Versorgungslandschaft und v.a. auch mit Blick auf die von Bundesgesundheitsminister Lauterbach angekündigte Digitalstrategie für die Versorgungsbranche ist es daher von großer Bedeutung, die Diskussion um Gesundheitsgerechtigkeit in die breite Öffentlichkeit zu bringen. Bei der Zielformulierung und Strategieableitung ist aber stets zu beachten, dass der Fokus weniger auf gesundheitlicher Chancengleichheit, dafür umso mehr auf Gesundheitsgerechtigkeit liegen muss. Den Unterschied zwischen gesundheitlicher Chancengleichheit (Health Equality) und Gesundheitsgerechtigkeit (Health Equity) macht die Abbildung oben deutlich. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass Gleichheit (Equality) gegeben ist, wenn alle Personen unabhängig von Bedarf oder Ergebnis gleich behandelt werden, während sich ein gerechter Ansatz auf gleichere Ergebnisse konzentriert und anerkennt, dass benachteiligte Gruppen möglicherweise mehr Unterstützung oder Ressourcen benötigen, um gleiche gesundheitliche Ergebnisse wie privilegiertere Gruppen zu erreichen (WHO). Besonders einflussreiche Merkmale sind dabei laut WHO z.B. Einkommen, Ausbildung, Wohnort, soziale Inklusion, aber auch den Zugang zu erschwinglichen Gesundheitsdiensten. Gesundheitsgerechtigkeit fokussiert sich laut WHO auf die Abwesenheit von ungerechten, vermeidbaren oder heilbaren Unterschieden zwischen Personengruppen unabhängig von deren wirtschaftlichen, sozialen und geografischen Lage (s. Infobox Absatzende). Es zeigt sich also: Vor allem im deutschen Sprachgebrauch muss sehr sorgfältig mit den beiden Begrifflichkeiten gearbeitet werden, eine allgemeingültige Auslegung hinsichtlich ihrer Relevanz für künftige politische Weichenstellungen für die Versorgung der Zukunft ist empfehlenswert. HCM hat bei
- Alexander Haarmann, PhD, Postdoc Researcher in Health System Governance an der Hertie School Berlin und
- Tobias Silberzahn, Partner und Leiter des globalen HealthTech Networks bei McKinsey
nachgefragt, warum das Thema Health Equity hierzulande kaum diskutiert wird und welche Herangehensweise für ein gesteigertes Bewusstsein seitens der Politik, Leistungserbringer sowie Industrie nötig wäre.
Was genau ist Health Equity?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheitsgerechtigkeit (Englisch: Health Equity) wie folgt:
„Gerechtigkeit ist das Fehlen ungerechter, vermeidbarer oder heilbarer Unterschiede zwischen Personengruppen, unabhängig davon, ob diese Gruppen sozial, wirtschaftlich, demografisch oder geografisch oder durch andere Dimensionen der Ungleichheit (z.B. biologisches und soziales Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Behinderung oder sexuelle Orientierung) definiert sind. Gesundheit ist ein grundlegendes Menschenrecht. Gesundheitsgerechtigkeit wird erreicht, wenn jeder sein volles Potenzial für Gesundheit und Wohlbefinden ausschöpfen kann.“
Bei der Übersetzung des global verwendeten Begriffs von Health Equity kommt es immer wieder zu Übersetzungs- und Interpretationsfehlern. Health Equity wird fälschlicherweise immer wieder mit gesundheitlicher Chancengleichheit gleichgesetzt, die vielmehr dem englischen Begriff Health Equality entspricht. Quelle: WHO, Health Equity
Pandemie hat Defizite aufgedeckt
„Die Politik hat gesundheitliche Ungleichheiten auf dem Schirm, aber sie gehören nicht zu den priorisierten Themen – und das, obwohl die Pandemie geradezu mit dem Brennglas darauf gezeigt hat“, erklärt Haarmann. Unter anderem hat eine Analyse von Krankenkassendaten von 1,28 Millionen Versicherten in Deutschland, veröffentlicht im Bundesgesundheitsblatt 2021, gezeigt, dass Arbeitslose ein erhöhtes Risiko für einen durch Covid-bedingten Krankenhausaufenthalt haben, doch Maßnahmen wurden angesichts dieser Erkenntnis nicht abgeleitet. Haarmann bedauert die langsame Lernfähigkeit des Gesundheitssystems, die sich auch in anderen Bereichen zeigt: „Es gibt viele wegweisende Projekte in Deutschland, die eine integrierte Versorgung verfolgen, die mehr Health Equity ermöglichen können, und dabei vorbildliche Verbesserungen erzielen. Das Projekt ‚Gesundes Kinzigtal‘ gehört z.B. dazu. Unglücklicherweise kommt von solchen wegweisenden Best-Practices wenig in die flächendeckende Umsetzung.“ Einen wesentlichen Einfluss haben darauf die jeweiligen Systeme, in denen Gesellschaft und Staat funktionieren: „In Deutschland nehmen wir z.B. eher eine Mittelposition zwischen dem schwedischen Ansatz auf der einen Seite und dem amerikanischen Ansatz auf der anderen Seite mit dem Motto ‚Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied‘ ein“, erklärt Haarmann.
Kommentar von Prof. Dr. David Matusiewicz
In der Zukunft hat jeder Mensch mit Behandlungsbedarf weiterhin das unbedingte Recht auf eine sichere und gerechte Gesundheitsversorgung, die Digitalisierung assistiert bei der besseren Umsetzung.
Prof. Dr. David Matusiewicz
Gesundheitsgerechtigkeit braucht gerechte Bildung
Für Haarmann und Silberzahn ist gesundheitliche Ungleichheit wie auch Ungerechtigkeit sehr stark verknüpft mit Health Literacy – also der Fähigkeit, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden. „Gesundheitskompetenz ist die entscheidende Determinante, wenn es um Health Equity geht. Wenn ich nicht weiß, wie ich durch z.B. Schlaf-, Ernährungs- und Bewegungsmuster meine Gesundheit positiv beeinflussen kann, habe ich es schwer, meine Gesundheit selbst zu beeinflussen“, sagt Silberzahn. Eine ähnliche Herausforderung sieht er auch hinsichtlich digitaler Gesundheitstechnologien. „Es hilft nichts, mit der Gießkanne digitale Anwendungen wie Apps zur Prävention der breiten Masse zur Verfügung zu stellen, wenn diese nicht weiß, wie sie bestmöglich für den individuellen Bedarf eingesetzt werden können oder deren Relevanz für die eigene Gesundheit einschätzen kann.“
Nehmen wir als Beispiel einen smarten Ring: Er zeichnet Vital- und Schlafdaten auf. Eine App gibt dem User basierend auf seinen Daten verkürzt dargestellt Tipps für einen besseren Schlafrhythmus, Bewegungspausen und schlägt Alarm, wenn der Stresslevel zu sehr ansteigt. Praktisch, möchte man meinen – aber eben nur für eine bestimmte gesellschaftliche Schicht. Neben mehreren hunderten Euro für den Ring, muss für den umfänglichen Datenfluss und Nutzen ein Abo abgeschlossen werden. Wer den Fokus auf seine Gesundheit setzen möchte, kann sich die Ausgaben dafür an anderer „ungesunder“ Stelle einsparen – richtig. Aber was, wenn diese Person aufgrund ihrer soziodemografischen und sozioökomischen Hintergründe keinen Job hat, der tägliche Spaziergänge, regelmäßige Pausenzeiten oder gar einen geregelten Schlaf zulässt?
Health Equity: „Je mehr Menschen mitgenommen werden, umso besser“
Unbequeme Fragen wie diese bedürfen auch einer ethischen Diskussion, nicht nur in akademischen, politischen und wirtschaftlichen Bereichen, sondern mitten in der Gesellschaft. „Die Politik kann den Rahmen vorgeben“, erklärt Haarmann, „aber auch die Akteure seitens der Leistungserbringung und Industrie können dieses Wechselspiel zwischen technischer Unterstützung und klassischen Versorgungszusammenhängen mitbestimmen und beeinflussen.“ Ihnen kommt für die Verbesserung von Health Equity eine enorme Bedeutung zu, denn „die Problemlösungsfähigkeit seitens der Politik ist vielmals begrenzt“, gibt Haarmann zu bedenken. Der Community-Ansatz, der in Sachen Gesundheitskompetenz u.a. in Großbritannien und Portugal für einige Erfolge gesorgt hat, könne dabei sowohl für die Politik als auch für die Leistungserbringer, aber auch Versicherungen und die Industrie, als Anleitung dienen. „Je mehr Menschen mitgenommen werden können, umso besser“, sagt Haarmann. Erkenntnisse aus den Niederlanden hätten z.B. auch gezeigt, dass man viele Menschen über die Schule, aber auch den Supermarkt, erreicht, ebenso am Arbeitsplatz. „Man muss die Menschen in ihren Lebenswelten ansprechen“, resümiert Silberzahn. Das beginne auf der Ebene des Wohnorts mit der Geburt bzw. dem ersten Arztbesuch. Was also braucht es auf Policy-Ebene, um Fortschritte in Sachen Health Equity im deutschen Gesundheitswesen zu erzielen?
- Im ersten Schritt eine allgemeingültige Definition von Gesundheitsgerechtigkeit, basierend auf den Zielvorgaben der WHO.
- Eine Einbettung von Gesundheitsgerechtigkeit in die nationalen Gesundheitsziele und daraus abgeleitete Strategien.
- Einen gesellschaftlichen Diskurs und öffentliche Aufmerksamkeitssteigerung.
- Das Einbeziehen in digitale Transformationsprozesse innerhalb der Versorgungslandschaft − von der Ideenentwicklung bis zur Umsetzung und ebenfalls bei der weiteren Verbreitung von digitalen Gesundheitsanwendungen, sodass negative Effekte von Benachteiligungsfaktoren gelindert werden können.
- Anreize für Hersteller und Anbieter von digitalen Gesundheitstechnologien, die dafür sorgen, dass definierte Handlungsfelder von Health Equity einbezogen werden.
- Einen starken Fokus auf die Steigerung von Digital Health Literacy v.a. bei marginalisierten Bevölkerungsgruppen gemäß ihrer Bedürfnisse, um eine gerechte Grundlage für Gesundheitsbildung zu schaffen.
Literatur
- Sturm, M. (2021): Digitalität als Ort der Ausgrenzung und sozialer Gerechtigkeit, in: Hessische Blätter für Volksbildung. Erwachsenenbildung und Umgang mit (Corona-)Krisen, S. 86 ff.
- Huster, S. (2011): Soziale Gesundheitsgerechtigkeit. Sparen, umverteilen, versorgen? Berlin: Verlag Klaus Wagenbach
- The Lancet Digital Health (Digital Technologies, 2021): Editorial. Digital technoloigies: a new determinant of health, in: The Lancet and Financial Times Commission on governing health futures 2030: growing up in a digital world, The Lancet, Edition 398, Nr. 10312, e684
- WHO (2022): Health Equity, https://www.who.int/health-topics/healthequity#tab=tab_1, [04.02.2022]
- Weitere Literatur bei der Autorin.
Kontakt zur Autorin:
Bianca Flachenecker, Redakteurin Health&Care Management, Kontakt: bianca.flachenecker@holzmann-medien.de