Strukturell auf Herausforderungen reagieren Magnetkrankenhäuser in Deutschland

Wie kann das Konzept der Magnetkrankenhäuser in Deutschland dabei unterstützen, den aktuellen Herausforderungen in der Versorgungslandschaft zu begegnen? Ein Einblick in die Entstehungsgeschichte und mögliche Ansatzpunkte. Unser Gesundheitswesen steht vor enormen Herausforderungen, wie Fachkräftemangel, hohe Arbeitsbelastung und steigender Anforderungen an das Gesundheitspersonal. Dazu befinden wir uns in einer unstetigen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Welt. (vgl. Diehl, 2019). In dieser Situation stoßen unsere bereits überlasteten Gesundheitssysteme an ihre Grenzen. Veraltete Strukturen und akuter Personalmangel stellen die Zukunftsfähigkeit des Gesundheitswesens in seiner heutigen Form massiv in Frage. In dieser Zeit gewinnt das Magnetkonzept immer mehr an Bedeutung. Es bietet eine klare Vision, Flexibilität im Umgang mit internen und externen Veränderungen und einen innovativen Ansatz zur Bewältigung dieser Herausforderungen, indem sie eine qualitativ hochwertige berufliche Pflege, ein verbessertes Arbeitsumfeld und -bedingungen sowie eine bessere Versorgungsqualität als Ziel haben (vgl. ANCC 2022). In diesem Kontext stellt sich die Frage, wie Magnetkrankenhäuser dazu beitragen können, die Herausforderungen im deutschen Gesundheitssystem zu meistern. Entstehungsgeschichte des Magnetkonzeptes Das Magnetkonzept hat seinen Ursprung in den Vereinigten Staaten und wurde basierend auf intensiver Forschung und Erfahrung von der American Nurses Credentialing Center (ANCC) in den 80er Jahren entwickelt. In den USA herrschte ein nationaler Pflegenotstand, das amerikanische System stand vor denselben Herausforderungen wie heute das deutsche: Die Unzufriedenheit beim Personal war hoch, sodass die Mitarbeitenden in Betracht gezogen haben, den Arbeitgeber zu wechseln und ihren Beruf zu verlassen. Einige Krankenhäuser waren nicht davon betroffen. Wissenschaftliche Untersuchungen identifizierten bei 41 Kliniken 14 Faktoren (magnetische Kräfte), die den heutigen Begriff „Magnetkrankenhaus“ prägen und die Basis für das Magnetkonzept bilden (vgl. McClure, 1983). Auf Basis dieser wissenschaftlichen Ergebnisse entwickelte sich ein Akkreditierungsverfahren der American Nurses Association (ANA), für die die ANCC die verantwortliche Stelle ist. Die erste Zertifizierung erfolgte im Jahr 1994 in den USA; seitdem haben sich weltweit 620 Krankenhäuser zertifiziert. Vier Jahrzehnte Evidenz zeigen auf, dass die Umsetzung des Magnetkonzeptes dazu führt, dass ein Arbeitsumfeld und -bedingungen geschaffen werden, das hochqualifiziertes Personal anzieht und halten kann und die Qualität der Patientenversorgung verbessert wird. Zudem werden diese Krankenhäuser in den USA mit geringeren Burnout-Raten, geringerer Fluktuation und einer verbesserten psychischen Gesundheit in Verbindung gebracht (vgl. ANCC, 2022). Mit fünf Komponenten zum Magnetkrankenhaus Das Magnetmodell umfasst fünf Komponenten, denen die 14 Magnetkriterien zugeordnet wurden (vgl. ANCC, 2022): 1. Transformationale Führung Dialog statt Monolog: Hierarchie war gestern. Unter dem Begriff der transformationalen Führung wird ein partizipativer Führungsstil verstanden, der dazu beiträgt, dass Mitarbeitende verstärkt in die Unternehmenslenkung eingebunden werden. Es handelt sich um eine starke und visionäre Führung, die Mitarbeitende dazu inspiriert und motiviert, ihr Bestes zu geben mit dem Ziel, die Patientenversorgung kontinuierlich zu verbessern. Sie ist nicht problemorientiert, sondern zielorientiert und transformiert die Organisation mit ihren Mitarbeitenden gemeinsam und fördert ihre Eigenständigkeit und geht dabei als Vorbild voran. Darüber hinaus sorgt die Führung für eine positive und gesunde Arbeitsumgebung, die die aktive Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen unterstützt und eine Kultur der kontinuierlichen Verbesserungen anstrebt. 2. Strukturelles Empowerment Diese Komponente bezieht sich auf die Schaffung einer unterstützenden und ermächtigenden Arbeitsumgebung, in der Strukturen und Prozesse vorliegen, die die Mitarbeitenden dazu befähigen, sich weiterzuentwickeln und einen Kompetenz- und Verantwortungsrahmen erhalten, in dem sie selbstständig agieren und bei der Gestaltung von Verbesserungen des Arbeitsumfeldes aktiv teilhaben. Pflegefachpersonen wird es ermöglicht, ihre Kompetenz auszuschöpfen und eigene Verantwortung für eigene Projekte zu tragen. Magnetkrankenhäuser legen einen hohen Wert darauf, Pflegefachpersonen in Entscheidungsprozesse einzubeziehen und Ideen einzubringen. Dies schafft eine Kultur des Engagements und einen Umgang, sich an aktuelle Herausforderungen anzupassen. 3. Vorbildlich professionelle Pflegepraxis Eine vorbildlich professionelle Pflegepraxis wird durch die Entwicklung und Implementierung professioneller Praxismodelle, Pflegekonzepte und einer evidenzbasierten Arbeit erreicht, die auf die Versorgungsbedarfe angepasst sind, um positive Patientenergebnisse zu erzielen. Es ist die Beschreibung wie die berufliche Pflege praktiziert, interprofessionell zusammenarbeitet, kommuniziert, sich beruflich weiterentwickelt und der Organisation wie auch dessen Umfeld (Patientinnen und Patienten, Familien, Gemeinde) dient, um eine qualitativ hochwertige und evidenzbasierte Gesundheitsversorgung zu bieten. Die Förderung und Wertschätzung der kollegialen Zusammenarbeit sind grundlegende Prinzipien, die von der obersten Führungsebene aktiv unterstützt und in der täglichen Arbeit innerhalb der Organisation gelebt werden. 4. Empirische Outcomes Durch die Erhebung von empirischen Daten wird der kontinuierliche Verbesserungsprozess überprüft und ermöglicht den Vergleich mit anderen Krankenhäusern. Hierfür werden pflegesensitive Indikatoren (z.B. Sturz, katheterassoziierte Infektionsraten, Decubitus Ulcera), die Mitarbeiterzufriedenheit beim Pflegepersonal sowie die Patientenzufriedenheit erhoben und für das Personal bis auf Stationsebene transparent gemacht, um die Qualität stetig zu verbessern. 5. Neues Wissen, Innovationen & Verbesserungen Die Komponente „neues Wissen, Innovationen und Verbesserungen“ hat das Ziel der kontinuierlichen Weiterentwicklung der Patientenversorgung durch Forschung und Innovation im Bereich der Pflege. Magnetkrankenhäuser unterstützen die Pflegeforschung und Pflegefachpersonen evaluieren und nutzen evidenzbasiertes Wissen für die Pflegepraxis, die immer eine Verbesserung der Patientenergebnisse als Ziel hat. Kommt das Magnetkonzept bald für ganz Europa? Die Magnet4Europe-Studie ist ein Vier-Millionen-Euro-Projekt, das durch das „Horizon 2020“-Forschungs- und Interventionsprogramm der Europäischen Union gefördert wird. Es ist derzeit die größte Interventionsstudie mit dem Ziel, die Arbeitsumgebung und -bedingungen in europäischen Krankenhäusern zu verbessern und das Wohlbefinden der Ärzteschaft, Pflegefachpersonen sowie Patienten und Patientinnen zu stärken. Die teilnehmenden Krankenhäuser werden dabei von erfahrenen zertifizierten Magnetkrankenhäusern in den USA unterstützt und nehmen an monatlichen internationalen Lerngemeinschaften teil, um Best-Practice-Beispiele und Erfahrungen auszutauschen. Zudem werden sie von einer internationalen Partnerschaft von fünf Universitäten, angeführt von der KU Lueven in Belgien und der University of Pennsylvania School of Nursing in den USA, unterstützt. Die Magnet4Europe-Studie zielt darauf ab, die Übertragbarkeit des Magnetkonzeptes in sechs Ländern (Belgien, England, Deutschland, Irland, Schweden und Norwegen) in insgesamt 60 Krankenhäusern zu prüfen und zu transformieren, um die Arbeitsumgebungen zu schaffen, in denen Gesundheitsfachberufe sich vollständig engagieren können, um eine für die Patienten funktionierende Versorgung zu gewährleisten. In Deutschland wird die Studie durch das Fachgebiet Management im Gesundheitswesen der Technischen Universität Berlin koordiniert. Insgesamt nehmen 20 Akutkrankenhäuser an 19 Standorten in Deutschland an der Magnet4Europe-Studie teil (vgl. Magent4Euope, 2022). Die Implementierung erfolgt auf dem evidenzbasierten Interventionsansatz, der auf dem erfolgreichen Magnet-Recognition-Programm basiert und läuft von Januar 2020 bis Dezember 2023 (vgl. Technische Universität Berlin, 2022). Seit sich die Kliniken innerhalb der Magnet4Europe-Studie auf den Weg zum Magnetkrankenhaus gemacht haben, wurde im Bereich der transformationalen Führung ein verstärkter Fokus auf die Einbindung von Pflegefachpersonen in interne und externe Entscheidungsprozesse gelegt. Ein weiterer Aspekt ist das Peer Review, bei dem Führungskräfte sich gegenseitig begleiten, coachen und wertvolles Feedback geben. Zusätzlich werden gezielte Workshops zur Persönlichkeitsentwicklung von Führungskräften sowie Mentoring-Programme angeboten, um die kontinuierliche Weiterentwicklung der Führungskompetenzen zu fördern. Darüber hinaus wird eine gezielte Nachfolgeplanung für Führungspositionen implementiert, um eine kontinuierliche Entwicklung und Stabilität in der Führung sicherzustellen. Im Bereich des strukturellen Empowerments wurden Maßnahmen ergriffen, um die interprofessionelle Zusammenarbeit zu fördern. Es wurden verstärkt Möglichkeiten geschaffen, damit beruflich Pflegende bei internen und externen Veranstaltungen sprechen und vermehrt an Projekten aktiv teilnehmen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Akademisierung der beruflichen Pflege. Hierfür wurden gezielte Strategien entwickelt, um den Anteil von Pflegfachpersonen mit akademischer Ausbildung zu erhöhen. Dies beinhaltet finanzielle Unterstützung und Freistellung für ein Studium, um Pflegefachpersonen den Zugang zur akademischen Bildung zu erleichtern. Zudem wird angestrebt, eine höhere Vergütung für Pflegefachpersonen mit akademischem Abschluss zu erreichen, um den Beruf attraktiver zu gestalten und Anreize für eine akademische Laufbahn in der beruflichen Pflege in den Krankenhäusern zu schaffen. Zusätzlich werden individuelle Karrierepläne und Aufgaben für Pflegefachpersonen entsprechend ihrer Qualifikation entwickelt. Dadurch erhalten sie gezielte Entwicklungsmöglichkeiten, die ihren Kompetenzen entsprechen. Dies fördert nicht nur die berufliche Weiterentwicklung der beruflich Pflegenden, sondern steigert auch ihre Motivation und Zufriedenheit im Beruf. Um die Verbindung zwischen der Theorie und Praxis zu stärken, werden Kooperationen mit Hochschulen gebildet und aktuelle Erkenntnisse in die praktische Arbeit integriert (vgl. Schwester der Pfleger, 2022). Integraler Bestandteil: Verbesserung der Pflegequalität Die Benchmark-Initiative Pflege hat sich aus teilnehmenden Krankenhäusern der Magnet4Europe-Studie entwickelt und wurde im Frühjahr 2022 zusammen mit dem Institut für Qualität und Patientensicherheit (BQS) ins Leben gerufen. Ihr Hauptziel ist die Verbesserung der Pflegequalität in Deutschland durch die Messung, den Vergleich und die Bewertung von pflegesensitiven Indikatoren. Die gesammelten Daten sollen den Austausch von Best Practices ermöglichen und kontinuierliche Verbesserungen in der beruflichen Pflege fördern. Die Initiative steht allen Krankenhäusern offen, unabhängig davon, ob sie in der Studie teilnehmen oder nicht (vgl. Institut für Qualität & Patientensicherheit, 2022). Zukunftsperspektiven für Deutschland Magnetkrankenhäuser weisen eine vier Jahrzehnte lange Evidenz auf, die gute Arbeitsbedingungen, die Zufriedenheit der Mitarbeitenden und exzellente Patientenergebnisse fördert. Sie bringen einen nachweislichen Mehrwert für Kliniken, Mitarbeitende sowie Patientinnen und Patienten und bieten somit eine bedeutende Chance für Deutschland. Durch eine positive und unterstützende Arbeitskultur, geprägt von transformationaler Führung und Einbindung der Pflege in Entscheidungsprozesse, wird der Arbeitsplatz attraktiver gestaltet und die Zufriedenheit der Pflegefachpersonen erhöht. Des Weiteren werden Anreize für die berufliche Weiterentwicklung durch gezielte Karriereplanung, individuelle Entwicklungsmöglichkeiten und Akademisierung der Pflege geschaffen, um qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen und langfristig zu binden. Magnetkrankenhäuser können sich auf die Einrichtung von Arbeitsumgebungen konzentrieren, die die Arbeitsbelastung reduzieren und das Wohlbefinden der Mitarbeitenden fördern. Durch den angestrebten Wissenstransfer, der Vernetzung und dem Austausch von Best Practice können Krankenhäuser von den Erfahrungen anderer lernen und bewährte Verfahren austauschen. Dies ermöglicht eine kontinuierliche Verbesserung der Pflegequalität und trägt zur Bewältigung der steigenden Anforderungen bei. Zudem wird die interprofessionelle Zusammenarbeit durch die effektive Kommunikation, Koordination und ein gemeinsames Verständnis der Patientenversorgung und das Erreichen von gemeinsamen Zielen gefördert. Durch die enge Zusammenarbeit von verschiedenen Fachdisziplinen, einschließlich Pflege, Ärzteschaft und Therapeuten und andere Fachkräfte, können jeweilige Fachkenntnisse gebündelt und aufeinander abgestimmt werden, um die Patientenversorgung sicherzustellen. Dies ermöglicht den Teams, gemeinsam und eigenständig Lösungen von Problemen zu erarbeiten, Wissen auszutauschen, evidenzbasierte Praktiken umzusetzen und voneinander zu lernen, was wiederum zu einer besseren klinischen Entscheidungsfindung und optierten Behandlungsfällen führt. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass Magnetkrankenhäuser allein nicht alle Herausforderungen im Krankenhaus lösen können. Ein ganzheitlicher Ansatz erfordert auch politische Unterstützung, Investitionen in die Ausbildung von Pflegefachpersonen, eine angemessene Vergütung und eine langfristige strategische Planung, um den Bedarf an qualifiziertem Personal zu decken und die berufliche Pflege langfristig zu stärken. Kontakt zum Autor Nora Kobertz, Healthcare Consultant, Kobertz Healthcare Consulting, nora@kobertzconsulting.de Literatur Diehl A.: VUCA World – Dynamik und Führung in digitalen Märkten. https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/vuca-119684 [26.11.2022] American Nurses Credentialing Center (2022): Magnet Model- Creating a Magnet Culture. https://www.nursingworld.org/organizational-programs/magnet/magnet-model/ Überprüfungsdatum [26.11.2022] McClure M.L., Poulin, M.A., Sovie en, M.D., & Wandelt, M.A. (1983): Magnet® Hospitals Attraction and Retention of Professional Nurses. (The Original Study). ANA Publ.;G-160:i-xiv, 1-135 American Nurses Credentialing Center: Library of Magnet Journal Articles. https://www.nursingworld.org/organizational-programs/magnet/program-tools/library-of-magnet-journal-articles/ [26.11.2022] Technische Universität Berlin: Study Protocol for the Magnet4Euope study published. https://www.tu.berlin/en/mig/news-overview/study-protocol-zur-magnet4europe-studie-veroeffentlicht Überprüfungsdatum [13.06.2022] Magnet4Euope: Magnet4Europe in Deutschland. https://www.magnet4europe.eu/deutschland.html Überprüfungsdatum [13.06.2022] Maier C., Köppen J., Kleine J. (2022): Das Arbeitsumfeld in Krankenhäusern verbessern. Die Schwester der Pfleger, 8: 84-87 Institut für Qualität & Patientensicherheit: Benchmark-Initiative Pflege – die Grundlage für eine Verbesserung der Versorgungsqualität. https://www.bqs.de/aktuelles/meldungen/benchmark-initiative-pflege.php Überprüfungsdatum [13.06.2022]

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