Digitalisierung
Reisen buchen, Geld überweisen, shoppen: Für Millionen Menschen läuft im Alltag längst viel digital. Praxen und Kliniken hinken da ziemlich hinterher. Findet die Politik dafür jetzt einen entscheidenden Turbo?

Nach jahrelangem Gezerre soll die Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland mit breit angelegten Anwendungen für alle mehr Fahrt aufnehmen. Das Bundesministerium für Gesundheit veröffentlichte heute die Digitalisierungsstrategie.
Bundesminister Karl Lauterbach stellte dazu auch die Pläne für einen Neustart bei elektronischen Patientenakten vor, die als freiwilliges Angebot kaum genutzt werden. Wie der SPD-Politiker angekündigt hat, sollen sie Ende 2024 für alle verbindlich werden – es sei denn, man lehnt es ausdrücklich ab. Die von der Ampel-Koalition vorgesehene Umstellung soll einen Durchbruch für digitale Anwendungen bringen. Auch E-Rezepte sollen vorankommen. Zudem sollen mehr Datenauswertungen für die Forschung möglich werden.
Digitale Patientenakte kann Leben retten
Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Wie in so vielen Bereichen hat Deutschland im Gesundheitssystem die Digitalisierung jahrelang verpennt.“ Dabei trage sie zu einer schnelleren, effizienteren und besseren Versorgung bei.
„Die digitale Patientenakte kann Leben retten, weil sie Ärztinnen und Ärzten sofort alle wichtigen Informationen über Patientinnen und Patienten zur Verfügung stellt.“
Janosch Dahmen
Sie müsse daher zum Standard werden. Dass bisher weniger als ein Prozent der Bevölkerung eine E-Patientenakte habe, sei völlig unzureichend. „Andere Länder sind uns meilenweit voraus.“
Die 2021 als freiwilliges Angebot eingeführten E-Akten sollen etwa
- Befunde,
- Röntgenbilder und
- Medikamentenlisten
speichern und so auch unnötige Mehrfachuntersuchungen vermeiden. Bisher nutzt aber nur ein Bruchteil der 74 Millionen gesetzlich Versicherten das Angebot. Bei der Vernetzung der Praxen gibt es Verzögerungen, bei mehreren Fragen schwelt Streit über den Datenschutz. Im Koalitionsvertrag haben SPD, Grüne und FDP daher vereinbart, das Prinzip „Opt-out“ anzuwenden – also, dass alle automatisch eine E-Akte bekommen und man aktiv widersprechen muss, statt wie bisher aktiv eine E-Akte zu beantragen.
Grünen-Experte Dahmen sagte, es sei gut, dass der Minister jetzt Tempo mache. Die Widerspruchslösung sei angesichts des hohen Nutzens für die Versorgung „ein verhältnismäßiger Weg“. Dabei solle man Datenschutz und Gesundheitsschutz nicht gegeneinander ausspielen. „Patientinnen und Patienten sollten flexibel über die Nutzung der Akte entscheiden können.“ So könnten sie beispielsweise nur einzelne Befunde für bestimmte Ärztinnen und Ärzte sichtbar machen. Zudem sollte die Digitalakte von vornherein so effizient und benutzerfreundlich wie möglich sein. „Dafür gibt es noch Luft nach oben“, erläuterte Dahmen.
Elektronische Patientenakte sorgt für schnelleren Überblick
„Für die Patientinnen und Patienten oder Ärzteschaft muss die Patientenakte so einfach wie eine Suchmaschine zu bedienen sein“, sagte der Grünen-Politiker. Für den Praxisalltag wäre es sehr umständlich, wenn zunächst nur lange Dokumente hochgeladen werden könnten. Es brauche einen schnellen Überblick über die Patienteninformationen und ein einheitliches und strukturiertes Datenformat. Die FDP-Fachpolitikerin Christine Aschenberg-Dugnus sagte, der Vorteil der E-Akte sei nicht nur, dass Patientinnen und Patienten Einblick in sämtliche Befunde erhielten. Auch andere Akteure des Gesundheitswesens könnten sich mit wenigen Klicks ein Bild vom Gesundheitszustand eines Patienten sowie einer Patientin verschaffen.
Ziel: Bis 2025 sollen 80 Prozent der Versicherten eine elektronische Patientenakte haben
Eine Zielmarke für die Pläne hat die Bundesregierung schon in ihrer umfassenderen Digitalstrategie ausgegeben: Sie will sich 2025 daran messen lassen, ob mindestens 80 Prozent der gesetzlich Versicherten eine E-Patientenakte haben. Endlich Schwung kommen sollen auch bei elektronischen Rezepten, deren Einführung in größerem Stil weiterhin stockt – in der bundesweit einzigen Pilotregion in Westfalen-Lippe wurden weitere Schritte im vergangenen Herbst vorerst auf Eis gelegt.
Nationaler Gesundheitsdatenraum benötigt
Grünen-Experte Dahmen betonte: „Wir brauchen einen nationalen Gesundheitsdatenraum, in dem die Daten einheitlich aus dezentralen Quellen in Echtzeit systematisch zusammenlaufen.“ Es müsse in eine digitale Infrastruktur in öffentlicher Hand investiert werden, die Datenschutz, IT-Sicherheit und Praktikabilität vereine. Auch hierbei brauche es einen großen Wurf. Halbgare Lösungen könnten Akzeptanz bei Patientinnen und Patienten sowie Ärztinnen und Ärzten kosten – und letztendlich deshalb auch Leben.
Lauterbach geht es auch darum, mehr Möglichkeiten für die Forschung zu eröffnen. Die systematische Auswertung vieler digitaler Daten kann Erkenntnisse entscheidend beschleunigen. Ein Vorbild dafür ist Israel, das vor mehr als 25 Jahren mit der Digitalisierung begann.
Digitalisierungsstrategie
Das Bundesministerium für Gesundheit hat gemeinsam mit zahlreichen Akteuren eine Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen und die Pflege erarbeitet.
Inhalte der Strategie sind
- neben einer Vision und Zielen für die Digitalisierungsvorhaben auch
- regulatorische Rahmenbedingungen und
- Voraussetzungen für eine erfolgreiche Strategieumsetzung.
Mit einem Klick hierauf gelangen Interessierte zum Strategiedokument.
DKG: Kliniken unterstützen Digitalisierungsstrategie, fordern aber nachhaltige Finanzierung
„Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) unterstützt die Kernpunkte der Digitalisierungsstrategie des Bundesministeriums für Gesundheit ausdrücklich. Die Einführung einer Opt-Out-Lösung bei der elektronischen Patientenakte kann dazu beitragen, die Vorteile digital verfügbarer Dienste für die Versorgung greifbar zu machen. Die Belange des Daten- und Patientenschutzes müssen dabei genauso Berücksichtigung finden, wie der Anspruch der Versicherten, die medizinische Versorgung unter Nutzung vorhandener Gesundheitsdaten laufend zu verbessern. Das gilt für die medizinische Versorgung des Einzelnen, wie auch für die Weiterentwicklung der Versorgungsforschung für alle. Daher begrüßen wir, dass die Gesundheitsdaten nicht nur in der elektronischen Patientenakte für die individuelle Versorgung der Patientinnen und Patienten genutzt werden sollen, sondern dass mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz auch die Grundlage für einen nationalen Gesundheitsdatenraum und die Nutzung für Forschungen und Innovationen geschaffen wird“, erklärt Dr. Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der DKG.
Zudem müssen auch die finanziellen Grundlagen geschaffen werden, um die in der Digitalisierungsstrategie genannten Ziele umzusetzen. Gerade die Umsetzung der ePA verursacht in den Krankenhäusern, bezogen auf Interoperabilität und Sicherheit der Daten, enormen Aufwand.
Die Betriebskostenfinanzierung digitaler Lösungen sei nach wie vor ungelöst, gleichzeitig drohen noch immer Sanktionen, wenn bis Ende kommenden Jahres nicht alle gesetzlich geforderten Lösungen umgesetzt sind. Der Verweis von Minister Lauterbach auf die Digitalisierung in Israel und den USA ist richtig. Eine mit diesen Ländern vergleichbare Finanzierung besteht in Deutschland dagegen nicht. Die Krankenhäuser in Deutschland blicken gespannt auf die Frage, wie die Umsetzung dieser Digitalisierungsbeschleunigung finanziell sichergestellt wird.
„Wichtig ist: Die Digitalisierung muss nachhaltig umgesetzt werden. Dazu gehört auch, die entstehenden Betriebs- und Personalkosten im System abzubilden. Sonst verpufft der Impuls des Krankenhaus-Zukunftsfonds, ohne dauerhaft für eine Verbesserung der Versorgung zu dienen.“
Dr. Gerald Gaß
Bundesärztekammer: Die Digitalstrategie braucht eine Umsetzungsstrategie
„Die Ärzteschaft steht inhaltlich hinter der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Sie wird aber nur dann Erfolg haben, wenn die Digitalisierung sowohl Patientinnen und Patienten als auch Ärztinnen und Ärzten spürbar nutzt. Am Beispiel der elektronischen Patientenakte heißt das: Sie muss sowohl die Sicherheit der Patientendaten gewährleisten als auch eine praktikable Befüllung und einen einfachen Zugriff auf die in der Akte abgelegten Daten sicherstellen. Wir halten es auch für sinnvoll, dass valide Daten für Versorgungs- und Forschungszwecke abrufbar werden. Aber auch hier fehlt der Digitalstrategie eine Umsetzungsstrategie mit konkreten Vorschlägen für die Opt-Out-Regelung. Vertrauen auf Seiten der Patientinnen und Patienten setzt Transparenz und eine praktikable Möglichkeit zum Widerspruch, z.B. gegen die Nutzung durch die Industrie, voraus. Wir brauchen jetzt Strukturen und Prozeduren, die die Datensicherheit, die Einhaltung ethischer Standards und die Wahrung der Grundrechte von Patientinnen und Patienten beim Datenhandling, der Verarbeitung und dem Datenzugang gewährleisten. Das ist aufwändig, aber eben auch notwendig, wenn wir zu langfristig tragfähigen Regelungen kommen wollen“, erklärt Bundesärztekammer-Präsident Dr. Klaus Reinhardt.