
Der Deutsche Pflegekongress auf dem Hauptstadtkongress hat eine neue Wissenschaftliche Leiterin. Sie bringt Themen und Referierende aufs Podium, die die Herausforderungen der Pflege auch aus der gesamtgesellschaftlichen Perspektive betrachten und daraus zeitgemäße Handlungsimpulse entwickeln.
Der Hauptstadtkongress 2022 (HSK) und seine Satellitenkongresse präsentieren sich 2022 in neuem „Look & Feel“. Nicht nur das Logo und der Veranstaltungsort haben sich verändert. Der Entscheidertreff für Vertreterinnen und Vertreter aller Bereiche der Gesundheitswirtschaft und -politik setzt auf neue inhaltliche und konzeptionelle Akzente. Diese werden sich auch auf dem Deutschen Pflegekongress, der unter dem Dach des HSK stattfindet, wiederfinden. Die neue Wissenschaftliche Leiterin Vera Lux, Pflegemanagerin und Pflegedirektorin an der Medizinischen Hochschule Hannover, hat ein Programm zusammengestellt, dass keine Wünsche des Pflegemanagements und der Pflegepolitik offenlassen wird. Der erfahrenen Pflegeexpertin ist es damit v.a. gelungen, Platz zu machen für die oft – v.a. seitens der Politik – vernachlässigte gesamtgesellschaftliche und systemische Perspektive auf Pflege und Versorgung. Im Gespräch mit HCM erläutert Lux die Hintergründe.
„Mehr Fortschritt wagen“, so steht es im Koalitionsvertrag. Wir nähern uns dem ersten Jahr unter der Ampel. Merken Sie in Bezug auf Pflege schon etwas von diesem „Mehr“?
Lux: Leider nein. Einen Fortschritt verspürt die Pflege bisher nicht. Es wurden noch keine Maßnahmen aus dem Koalitionsvertrag angegangen. Die aktuelle politische Lage bindet viele Kräfte und lässt Prioritäten verschieben. Dennoch sehe ich die Gefahr, dass so notwendige Reformen in den Hintergrund geraten.
Wie ist die Stimmung denn aktuell in der Pflege?
Lux: Die Erwartungen an die neue Bundesregierung waren groß und der Koalitionsvertrag versprach Verbesserungen. Die Pflege hat dort sehr viel Raum eingenommen. Uns war bewusst, dass nicht alles, was dort angekündigt wurde, umgesetzt wird. Doch die Pflegenden sind enttäuscht und Unmut ist zu spüren, denn nach wie vor werden nur Symptome bekämpft. Grundlegende Reformen werden nicht angegangen. Damit schwindet das Vertrauen der Pflege in die Politik mehr denn je.
Zur Pandemie kommt nun eine zusätzliche Belastung durch die Versorgung von geflüchteten Menschen. Kann die Pflege das noch stemmen?
Lux: Die Pflege wird sich ihrer wichtigen Aufgabe angesichts der derzeitigen Bedarfe nicht entziehen und will das auch nicht. Um die Versorgung von Flüchtlingen medizinisch und pflegerisch zu gewährleisten, müssen ggf. elektive Behandlungen verschoben werden. Zusätzliche personelle Ressourcen gibt es nicht, viele Pflegende sind erschöpft und ausgelaugt.
Das Behandeln von Ursachen fehlt bisher
Seit Jahren wird mit unterschiedlichen Instrumenten an den Pain- Points der Pflege „herumgedoktert“. Wäre es nicht einmal Zeit für eine Gesamtstrategie?
Lux: Wir erleben seit langem, dass eher Symptome behandelt, nicht aber die Ursachen grundlegend und strukturell angegangen werden. So ändert sich nichts an der desolaten Situation in der Pflege. Es fehlt ein Masterplan Pflege, so wie er schon des Öfteren gefordert und vorgelegt wurde. Dazu braucht es Mut. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass die Politik hier mutig genug ist. Es wäre notwendig, alles auf den Prüfstand zu stellen: von der Ausbildung bis zum Studium, dem Skill- und Grademix, der Übertragung von Aufgaben, der Stärkung der Selbstverwaltung bis hin zur Finanzierung. Wir wissen, dass wir 2030 sechs Millionen Pflegebedürftige haben werden. Mit dem jetzigen System werden wir dieser Herausforderung nicht begegnen können. Das System muss fundamental reformiert werden. Das tut weh, kann aber nicht ausgesessen werden. Gibt es nicht ausreichend professionell Pflegende, spürt die Gesellschaft die Auswirkungen unmittelbar. Deshalb habe ich die Session Pflege und Gesellschaft beim Hauptstadtkongress 2022 auf die Agenda gebracht.
Das klingt vielversprechend. Was erwartet uns konkret in den Sessions?
Lux: Wir werden kontrovers und provokant auf die Situation schauen. Es geht dabei um die Finanzierung von Pflege und um die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung. Wir diskutieren über zukünftige Überlastungsszenarien in der Pflege und welche Auswirkungen diese auf die Gesellschaft und Wirtschaft haben können. Zu Gast wird u.a. Prof. Rothgang sein, der mögliche Zukunftsszenarien sowie deren Bedeutung darlegen wird. Weitere Referenten und Referentinnen werden jeweils aus dem Blickwinkel ihrer Professionen auf die genannten Herausforderungen schauen. Dabei wird die gesellschaftliche Perspektive eine wichtige Rolle spielen. So wollen wir herausfinden, wie unser Versorgungssystem künftig funktionieren könnte. Daraus verspreche ich mir neue Impulse und Anregungen, die in die Reformen und Systemgestaltung einfließen können.
Welches Ziel haben Sie für den Deutschen Pflegekongress gesetzt?
Lux: Der Deutsche Pflegekongress ist Teil des HSK. Hier treffen sich Medizin, Pflege, Kaufleute, Pharma und Industrie und diskutieren die aktuelle Gesundheitspolitik und Ideen für eine mögliche Neuausrichtung des Gesundheitssystems. Pflegemanagement und Pflegende sind Teil des Systems und daher wichtige Akteure bei den Diskussionen. Der Deutsche Pflegekongress beim Hauptstadtkongress bietet eine Plattform dafür, über alle Branchen, Berufsgruppen und Hierarchien hinweg, um miteinander ins Gespräch zu kommen, sich zu vernetzen, auszutauschen und neue Impulse aufzunehmen. Wenn Pflege diese Plattform für ihre Ziele und Positionen nutzt, dann freue ich mich. Natürlich darf auch die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Berufsgruppe dabei nicht fehlen.
Was muss passieren, damit der Hauptstadtkongress 2022 für die Pflege ein Erfolg wird?
Lux: Zum einen wünsche ich mir, dass das Pflegemanagement und Pflegende zahlreich beim HSK vertreten sind. Zum anderen wünsche ich mir eine aktivere Rolle der Pflege. Pflege sollte sich einbringen bzw. einmischen und aus der eher passiven in eine gestaltende Rolle wechseln, z.B. in der Debatte, wie das zukünftige Gesundheits- und Pflegesystem aussehen könnte. Dazu sind erfolgreiche Vernetzung, kontroverse Diskussionen mit neuen Impulsen, die zur Selbstreflexion anregen, für einen erfolgreichen Kongress von Bedeutung.
„Das System muss fundamental reformiert werden. Das tut weh.“
Vera Lux
Alle Infos zum Hauptstadtkongress 2022 und dem Deutschen Pflegekongress
Der jährliche Leitkongress der Gesundheitswirtschaft steht vor der Tür: Dieses Jahr trifft sich die Branche wieder vor Ort in Berlin – im Hub 27. Unter dem Dach des HSK findet auch der Deutsche Pflegekongress statt. Folgende Themen stehen auf der Agenda:
- Neue Bundesregierung, neuer Kurs? Erwartungen der Pflege
- Pflegekammern: Selbstzweck oder Zukunftsmodell?
- Pflegebudget, Pflegepersonalquotient, PpUGV
- Digitalisierung – Transformation – gesamtheitliche Lösungsansätze
Aktuelle News, die Möglichkeit zur Anmeldung sowie das detaillierte Programm gibt es online: www.hauptstadtkongress.de
Das Interview führte Bianca Flachenecker.