Corona-Pandemie und Female Empowerment
Unter dem Hashtag #nichtselbstverständlich hat der Privatsender ProSieben bis in den frühen Donnerstagmorgen sein Programm freigeräumt, um den Alltag einer Pflegekraft in Deutschland zu zeigen. Worum es geht und die Reaktionen im Netz.
Am Dienstag, 30. März 2021, hatten Joko Winterscheid und Klaas Heufer-Umlauf in ihrer Sendung Joko und Klaas gegen ProSieben wieder einmal 15 Minuten Sendezeit für den darauffolgenden Mittwoch gewonnen. Schon mehrmals hatten die Moderatoren mit den Inhalten der ihnen zu Verfügung stehenden Zeit überrascht. Mal mit einem Bericht aus dem Flüchtlingslager Moria, mal mit einem klaren Statement gegen sexuelle Belästigung von Frauen. ProSieben selbst weiß nichts über die Inhalte der gewonnenen Viertelstunde.
Dieses Mal war der Sender eingeweiht und das hatte auch einen Grund, denn die 15 Minuten wurden zu mehr als sieben Stunden. Der Sender räumte den ganzen Abend bis in die tiefe Nacht dafür frei, Werbung gab es dank zweier Sponsoren auch keine .
Frühschicht in Echtzeit
In Echtzeit begleitete der Zuschauer eine Intensivpflegerin durch ihre Schicht . Meike Ista ist Fachgesundheits- und Kinderkrankenpflegerin im Knochenmarkstransplantationszentrum (KMT) am Universitätsklinikum Münster (UKM). Ab 20.15 Uhr sieht man wie Meike Ista ihr Auto im Parkhaus abstellt und sich den Weg durch die Krankenhaus-Flure bahnt, um sich für die anstehende Schicht umzuziehen. Dort erfährt der Zuschauer überhaupt das erste Mal, wen man dort über eine Bodycam gerade begleitet. Die Kamera ist bei der Übergabe dabei, bei den täglichen Arbeiten, bei Gesprächen mit Patienten und Kollegen und bei Pausen, aus denen dann doch nichts wird. Der gesamte Arbeitstag von Ista aus einer Perspektive – aus ihrer Perspektive. Ehrlich, manchmal aufgeregt, nahbar und professionell. Eine Dokumentation, die auch dem Zuschauer keine Pause gönnt.
Moralisch erpressbar
In der Doku kommen auch andere Pflegende zu Wort, die über den Alltag, die Überlastung, fehlende Anerkennung und ausgebrannte Kollegen sprechen. Und wenn sich die Pflege zu Wort meldet, öffentlich über die Bedingungen spricht und vielleicht jemand das Wort Streik in den Mund nimmt, wird Pflege moralisch erpresst. „Man hört oft: Ihr könnt doch die Patienten nicht im Stich lassen. Aber das machen wir nicht! Wir lassen unsere Patienten nicht im Stich. Die Gesellschaft, die Politik und die Krankenhäuser machen das seit Jahrzehnten mit uns“, sagt Alexander Jorde, Pfleger aus Hildesheim, der 2017 bekannt wurde, als er Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Fernsehsendung auf die Missstände in der Pflege aufmerksam machte.
Stiller Protest über Krankmeldungen
Andere Pflegekräfte, wie etwa Esther Binar aus Oldenburg, berichten von auf Kante genähter Personalplanung: Urlaube, Fortbildungen, Schwangerschaften würden nicht mehr eingeplant, sagt sie. Dementsprechend müsse jeder Ausfall kompensiert werden und Kompensation bedeute immer Mehrarbeit. Der Intensivpfleger Ralf Berning aus Bielefeld berichtet von Kollegen mit mehr als 300 Überstunden. „Viele brennen aus, melden sich krank“. Das sei dann auch oft der Stille Protest, „weil viele einfach nicht mehr können“, sagt Berning.
Reaktionen im Netz
Die Doku wühlt auf und trifft einen Nerv. Die Zuschauer nutzen den Aufruf zur Beteiligung und das bereitgestellte Hashtag #nichtselbstverständlich: Allein auf Twitter kommen in kurzer Zeit mehr als 53.000 Tweets zusammen. Viele Pflegende, die sich in der Protagonistin wiederfinden, machen sich Luft und finden lobende Worte. Daran schließt sich auch die Senderkonkurrenz an: Arte sieht in der Doku ein Stück deutscher TV-Geschichte , RTL lobt sie als ein beeindruckendes Zeichen für die Pflege.
Und die Politik?
Auch einige Politiker scheinen zu den Zuschauern zu gehören: Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) dankt in einem Tweet Joko und Klaas für diese Sendung und resümiert. „Respekt heißt: gute Löhne & Arbeitsbedingungen“. Sogar in eine Pressekonferenz, auf der es eigentlich um die Verteilung von Impfstoffen ging, schaffte es die Sendung: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) lobt das Stück Fernsehgeschichte am Tag nach der Ausstrahlung und verspricht Verbesserungen der Arbeitsbedingungen bzw. Gespräche mit Pflegeverbänden darüber.
Bessere Einschaltquote als sonst
Die Sendung, widersprach allen geltenden Regeln des Fernsehmachens, wurde aber trotzdem oder vielleicht gerade deshalb zum Quotenhit für ProSieben. Der Sender aus Unterföhring spricht von einer Netto-Reichweite von 5,84 Millionen Zuschauern und einem Marktanteil von 17,2 Prozent bei Zuschauern von 14 bis 39 Jahren. Das Programm, das ProSieben normalerweise an einem Mittwoch ausstrahlt, erzielt deutlich schlechtere Quoten.
Aufmerksamkeit in Maßnahmen umwandeln
Einschaltquote und Beteiligung in sozialen Netzwerken sprechen dafür, dass die Echtzeit-Doku viel Aufmerksamkeit bekommen hat. „Nun gilt es, dass diese Aufmerksamkeit auch in Maßnahmen mündet, die den Pflegeberuf nachhaltig aufwerten“, sagt UKM-Pflegedirektor Thomas van den Hooven . Und Meike Ista wünscht sich, „dass die Pflege mehr Anerkennung bekommt. Die Anerkennung, die sie verdient“.
#nichtselbstverständlich
Auf der Homepage von ProSieben gibt es die ersten 30 Minuten der Sendung.
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