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Die Babyboomer-Generation ist auf dem Weg in die Rente. Was erwartet sie in den nächsten Jahren im Pflegebereich? Nach derzeitigem Stand werden die Mittel des deutschen Gesundheitssystems in einigen Jahren nicht mehr ausreichen, um alle Ansprüche zu decken. Ein Blick in die Zukunft.

Bereits in drei Jahren könnte sich laut statista.de die Zahl der in Heimen versorgten Pflegebedürftigen deutschlandweit auf rund 1,05 Millionen Menschen belaufen. Für deren Pflege fehlen bis 2035 knapp 500.000 Fachkräfte insgesamt. Wer wird dann die Seniorinnen und Senioren versorgen?
Ein Blick nach China gewährt einen ersten Eindruck. Nach der 35 Jahre lang andauernden Ein-Kind-Politik sind 2050 dort mehr als 430 Millionen Rentnerinnen und Rentner zu betreuen. Für die überalterte Bevölkerung wurden bereits jetzt virtuelle Pflegeheime in 200 Pilotprojekten eingerichtet. In einer großen Zentrale mit angeschlossenem Call-Center werden mit digitalen AAL-Sensoren gleichzeitig 160.000 Seniorinnen und Senioren zu Hause überwacht. Einmal wöchentlich schaut eine Pflegekraft zum Medizincheck vorbei, im Notfall bei einem durch Algorithmen ausgelösten Alarm natürlich auch ungeplant (Weltspiegel, 2021).
Nach dem Konzept des „virtuellen Altenheims“ übernehmen auch in Deutschland Hausnotrufzentralen die Kommunikation mit Pflegenden zu Hause, so z.B. die mit dem „Deutschen Seniorenpreis Multimedia“ des Bundesforschungsministeriums ausgezeichnete Kontaktbörse „inKontakt“ des Evangelischen Johanneswerkes in Bielefeld. Der Bundesverband Hausnotruf meldet bei einer Million Nutzern 11.000 Notrufe täglich (Bundesverband Notruf, 2021).
Im ebenfalls überalterten Japan übernehmen Roboter immer mehr die körperlich anstrengenden Aufgaben des Pflegeberufs, indem sie alte Menschen vom Bett in den Rollstuhl heben, sie umbetten oder umdrehen. Aber auch bei uns arbeiten Roboter im Alltag der Pflege 4.0 schon als Sekretär oder Haushaltshilfe, als Sportberater, Trainer, Animateur, Haustierersatz oder als Exoskelett. Der Roboterarm Kinova bedient körperlich behinderte Personen, aktive Roboter wie Yanni, Pepper und die Robbe Paro haben sich in einigen Pflegeheimprojekten schon in die Alltagsarbeit integriert (Bendel O., 2018).
Können Roboter den Pflegenotstand beseitigen?
Auf Seiten der Pflegekräfte entstehen aber auch Ängste, denn Roboter sollen das Personal lediglich unterstützen. Sie übernehmen allerdings genau jene Aufgaben, für die das Pflegepersonal gerne mehr Zeit hätte. Jede Interaktion zwischen Mensch und Roboter kann den Verlust direkten Kontakts zwischen Pflegekraft und Pflegenden begünstigen. Der Deutsche Ethikrat warnt daher, dass die positiven Effekte nur unter bestimmten Bedingungen ihre Wirkung zeigen können. Soziale Roboter dürfen auf keinen Fall zwischenmenschliche Interaktionen ersetzen (Deutscher Ethikrat, 2020).
Ein wichtiger Aspekt ist dabei eine nicht vertretbare Selbsttäuschung des zu pflegenden Menschen. In der Interaktion mit seinem maschinellen Pflegebegleiter könnte der Eindruck entstehen, er habe es tatsächlich mit einem Wesen von ausgesuchter Höflichkeit und Freundlichkeit zu tun, das sich um sein individuelles Wohl sorgt. Er täuscht sich, denn er schreibt diesem Gerät Eigenschaften und Interessen zu, die es nicht hat, und verhält sich entsprechend vertraulicher, kompromissbereiter und konzilianter, als es seiner eigentlichen Interessenlage entspricht. Im Fall Paro z.B. dürfte die Roboterrobbe demnach nur als „Eisbrecher“ und nicht als Haustierersatz fungieren, um in sich gekehrte Patientinnen und Patienten wieder zur menschlichen Interaktion mit den Pflegekräften oder mit Angehörigen zu motivieren. Damit wird aber der ökonomische Reiz nach Kosteneinsparung von Pflegepersonal nicht umgesetzt.
Entwicklung von sozialen Robotern
Von diesen ethischen Betrachtungen unbeeindruckt wird in der Forschung schon die nächste soziale Robotergeneration entwickelt: der Roboter als persönlicher Gefährte des Menschen (Rubeis G., Hartmann K.V., Primc N., 2022). Man bedient sich dabei der Big-Five-Taxonomie, welche die fünf OCEAN-Dimensionen der Persönlichkeit definiert: Openness, Conscientiousness, Extraversion, Agreeableness, Neuroticism (Big Five, 2022). Der maschinelle Freund soll mit seinem Charakter die Stimmung von Pflegebedürftigen positiv beeinflussen, Stress abbauen und das Gefühl von Einsamkeit vermindern. Dazu muss der Roboter in der Lage sein, mit einem sensiblen Verhalten auf Bedürfnisse und Empfindungen älterer Menschen einzugehen. Längerfristig soll sich zwischen Menschen und Maschine durch häufige Interaktionen ein Vertrauensverhältnis aufbauen. Der Roboter muss ein glaubwürdiges Verhalten zeigen und dafür als eigenständige Persönlichkeit mit Emotionen wahrgenommen werden.
In den letzten Jahren wurden enorme Anstrengungen unternommen, die Ausdrucksfähigkeit von Robotern durch Mimik und Gestik zu erhöhen. Führend auf dem Gebiet sind die Maschinen von David Hanson und seiner Firma Hanson Robotics (Sophia, 2022). Seine charmante Roboterdame Sophia, die sich 2017 bei den Vereinten Nationen vorstellte, erhielt prompt die saudi-arabische Staatsbürgerschaft.
Für eine dauerhafte Bindung sollte der Robotergefährte neben einem ansprechenden Design mit glaubwürdiger Mimik, eine passende Stimme, die richtige Größe und eine menschenähnliche Art und Geschwindigkeit von Bewegungen aufweisen. Damit ist es aber nicht genug, denn es fehlt noch das „sozial situierte Lernen“. Er muss in der Lage sein, sich an veränderte Stimmungen, Interessen, Bedürfnisse und Fähigkeiten seines Gegenübers zeitgerecht anzupassen. Menschen drücken ihre Gefühle wie Stress oder Ärger durch Mimik, Tonfall, Blickverhalten oder Körperhaltung aus. Ein empathischer Roboter muss darauf sofort und erwartungsgerecht reagieren. Extrovertierte Personen werden eher durch passende Small-Talk-Themen angeregt. Bei introvertierten Persönlichkeiten sollte er besser mal „die Klappe halten“ können (Hanson Robotik, 2022).
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass bereits wenige Schlüsselmerkmale genügen, damit Menschen auf virtuelle Charaktere ähnlich reagieren wie auf ein menschliches Wesen. Ein höherer Grad an Realismus im Aussehen führt nicht automatisch zu höherer Akzeptanz, denn eine künstliche Kreatur kann durch ihre Perfektion auch Unbehagen und sogar starke Aversionen erzeugen. Ein von Animationsfilmen bekannter Effekt, den man als „uncanny valley“ bezeichnet, lässt die Akzeptanz technischer Geräte und digitaler Figuren ab einem bestimmten Grad der Menschenähnlichkeit in Aussehen und Verhalten in massiver Weise absinken (Unheimliches Tal, 2022).
Menschliche Zuwendung durch Roboter ersetzen?
Letztendlich kommt man immer zum gleichen Ergebnis: Roboter können menschliche Zuwendung nicht ersetzen, da sie immer auch einen großen Komplex von nicht digitalen Komponenten beinhaltet. Ein funktionierendes System kann nur durch die vorherige Fokussierung auf die individuellen Bedürfnisse der Zielgruppen und dem nötigen Know-how der Beschäftigten mit dem Zusammenspiel aus Technologie, angepassten Arbeitsprozessen und -strukturen entstehen (s. Kasten: weiterführendes Links). Wer partout keine Roboter mag, muss sich dann aber fragen, woher künftig die menschlichen Betreuer kommen sollen? Sollte die Zukunftsperspektive vieler Babyboomer tatsächlich aus einem virtuellen Pflegeheim nach chinesischem Modell bestehen?
Literatur
• Bundesverband Notruf. https://www.bv-hausnotruf.de/ [2022].
• Bendel Oliver (2018) Pflegeroboter. Springer Gabler, ISBN 978-3-65822697-8
• Big Five (Psychologie) – Wikipedia. https://de.wikipedia.org/wiki/Big_Five_(Psychologie) [02.10.2022].
• Deutscher Ethikrat: Stellungnahme Robotik für gute Pflege. https://www.ethikrat.org/publikationen/ [10.03.2020].
• Hanson Robotik (wikipedia.org). https://en.wikipedia.org/wiki/Hanson_Robotics [19.08.2022].
• Rubeis G., Hartmann Kris V., Primc N. (2022). Digitalisierung der Pflege Vandenhoeck & Ruprecht Verlage, ISBN 978-3-7370-1479-3.
• Sophia (Roboter) – Wikipedia. https://en.wikipedia.org/wiki/Sophia_(robot) [24.12.2022].
• Unheimliches Tal – Wikipedia. https://en.wikipedia.org/wiki/Uncanny_valley [30.12.2022].
• Weiterführende Links: https://gute-pflege.digital/ [2022], https://www.management4health.eu [2022], https://aal-akademie.de
[2022], https://robotik-pflege.de/ [2022].
• Weltspiegel: Chinas Altenpflege. https://www.youtube.com/watch?v=pepVK2-YW2o [17.10.2021]
Kontakt zum Autor:
Manfred Kindler, Wissenschaftsredakteur, Mitgründer der neuen Plattform Kommunikations-Kompetenz-Club (KKC 2.0), m.kindler@kkc.info
Info
Der KKC e.V. hat sich zum Ende des Jahres 2022 aufgelöst und wird als KKC-Plattform weitergeführt: http://www.kkc.info. Alle bisher veröffentlichen Beiträge finden Sie hier: KKC – Health&Care Management (hcm-magazin.de)