Lesetipp Klare Sicht auf den Stand der Dinge

Eines vorweg: „Pflegeheime am Pranger“ ist keine simple Skandalschelte, wie sie zuletzt laufend durch Print- und TV-Medien ging. Bei aller Kritik u.a. am System geht Michael Graber-Dünow den Fakten auf den Grund, beleuchtet viele Zahlen neu, ergänzt beispielsweise um Umfragen und Anregungen. Von Überregulierung der Heime über Pflegenotstand bis zu Pflegenoten: eine wohltuend unaufgeregte, klare Sicht auf den Stand der Dinge.

© Mabuse-Verlag

Beschreiben Medienberichte über alarmierende Zustände im Alten- und Pflegeheim nur bedauerliche Einzelfälle? Oder handelt es sich hier um die Spitze des Eisbergs? Was ist dran an den Skandalmeldungen? Und was muss sich wirklich ändern?

Diesen wichtigen Fragen widmet sich das Buch „Pflegeheime am Pranger“. Es analysiert die Fakten hinter den Skandalen, beleuchtet die organisatorische Struktur des Heims, die Schwierigkeiten bei der Personalbemessung, Bürokratisierung in der Pflege und den allgemeinen Trend zur Überregulierung.

Neurungen haben Probleme verschärft oder geschaffen

Michael Graber-Dünow, Diplom-Soziologe und seit 25 Jahren selbst als Heimleiter in Frankfurt am Main tätig, zeigt auch auf: Manche Neuerung der letzten Jahre hat Probleme erst verschärft oder geschaffen, die sie eigentlich bekämpfen sollte. Und: Manche Hürde kann in den Heimen nicht gelöst werden, sondern fordert die ganze Gesellschaft heraus.

Eine Qualitätsdiskussion, die v.a. von der Kontroverse um die „Pflegenoten“ geprägt ist, lässt, so der Autor, befürchten, dass emanzipatorische Ansätze in der stationären Altenhilfe nicht mehr dem Zeitgeist entsprechen. Stattdessen haben Bürokraten die Oberhand gewonnen: Heute ist es beispielsweise nicht mehr ausreichend, mit einem Bewohner „nur“ zu lachen, denn in der Logik der Bürokraten kann er gar nicht gelacht haben, wenn sein Lachen nicht schriftlich festgehalten wurde. Natürlich muss dabei außerdem der situative Kontext des Lachens nachvollziehbar beschrieben sein …

Graber-Dünow treibt solche Interpretationen teils bewusst auf die Spitze, um die Absurdität vieler Situationen darzustellen. Es sind dann auch genau diese I-Tüpfelchen, die die meisten Mängel hervorragend verdeutlichen.

„Bewohner werden ihrer Privatheit und Intimität beraubt“

Überhaupt: „In dem immer weiter ausufernden Dokumentations- und Kontrollwahn merken wir nicht, dass wir vor lauter Schreiben gar keine Zeit mehr finden, überhaupt noch mit einem Bewohner fröhlich zu sein,“ so der Autor. „Wir wollen scheinbar nicht verstehen, dass wir den pflegebedürftigen Menschen nicht nur die notwendige zwischenmenschliche Zuwendung vorenthalten, sondern zugleich gläserne Bewohner schaffen, die ihrer Privatheit und Intimität beraubt werden.“

Auch wird schon im ersten Kapitel herausgestellt, dass Heime als Immobilien inzwischen einen ganz eigenen „Marktwert“ haben: Ein falscher Bauboom mit zu vielen Neubauten hat per Renditewahn zu einem Erfolgsdruck geführt, der längst genau so zu Lasten der Bewohner geht. Graber-Dünows Fazit: „Es wird Zeit, sich wieder auf die Menschen zu besinnen.“

Plädoyer für eine bessere Altenhilfe

Das Buch richtet sich an alle, die in Alten- und Pflegeheimen tätig sind, an Auszubildende, Ehrenamtliche sowie an die politisch Verantwortlichen. Es spricht auch Menschen an, die sich mit dem Gedanken beschäftigen, einmal selbst in ein Heim zu ziehen oder einen Angehörigen der Obhut eines Heims anzuvertrauen.

Die Stärke der gut 170 Paperback-Seiten liegt in den Analysen und Anregungen, die ein leidenschaftliches Plädoyer für eine bessere Altenhilfe sind.

Buchtipp
Graber-Dünow M. (2015) Pflegeheime am Pranger – Wie schaffen wir eine bessere Altenhilfe? Frankfurt/Main: Mabuse-Verlag