Systemveränderung: Auf der Suche nach dem Wie Kann die Plattformwirtschaft modernisieren?

Alle reden über die Plattformwirtschaft. In zahlreichen Büchern wird beschrieben, wie die Plattformwirtschaft unser Gesundheitswesen verändern könnte. Aber niemand spricht darüber, was die Voraussetzungen dafür wären. Und wer was dafür tun müsste. Ein erster Versuch. Das deutsche Gesundheitswesen ist von Innovationssprüngen, wie sie derzeit durch ChatGPT verursacht werden, noch weit entfernt. Die Bertelsmann-Studie hat es an den Tag gebracht: Deutschland ist in Sachen Digitalisierung des Gesundheitsbereichs auch nach Jens Spahn lediglich Mittelmaß. Trotz politischer Bemühungen, trotz einer ambitionierten Digitalisierungsstrategie, bewegt sich die Digitalisierung nur im Schneckentempo. Die Tatsache ist bekannt. Aber was tun? Aus dem Tagebuch einer Schnecke Rückblick: Geredet wurde ja viel über Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen. Bewegt hat sich das deutsche Gesundheitswesen erst, als sich der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn die Stimmenmehrheit der gematik gegriffen hat. Jetzt, so plant es das Ministerium, wird die Selbstverwaltung in der „Digitalagentur des Gesundheitswesens“ vor die Tür gesetzt. Auf der politischen Agenda steht weiterhin ein Opt-Out für die elektronische Patientenakte. Auch gut, dann kann das Desinteresse von Bürgerinnen und Bürgern nicht länger mit „Datenschutzvorbehalten“ maskiert werden. Ein großer Schritt für die Politik, ein kleiner Schritt für das Gesundheitswesen. Denn technische Möglichkeiten generieren noch lange keinen erlebbaren Nutzen. Zu hoffen ist, dass eine „selbstverwaltungsbefreite“ gematik nicht in den Fängen einer übersteuernden Politik landet, die auf geringste Unruhe im medialen Diskurs, beispielsweise die nächste Datenschutzleck-Entdeckung des Chaos Computer Clubs, maßlos mit zwei Schritten zurück reagiert und das deutsche Gesundheitswesen wieder in den Dämmerschlaf schickt. Oder andere Baustelle: Wenn die Krankenkassen, wie Anfang des Jahres, das zaghafte Pflänzchen DiGA, von Spahn als weltweites Vorzeigemodell gefeiert, kostentechnisch wieder einbremsen wollen. Zu wenig Evidenz, zu hohe Kosten. Wer die Schneckenbewegungen des deutschen Gesundheitswesens mit den Sprüngen anderer Wirtschaftsbereiche abgleicht, stellt fest: So wird das nichts! Warum fällt das Neue so schwer? In der Arena-Analyse „Out of the Box“ wurde das deutsche Gesundheitswesen 2013 als „Festung“ beschrieben. Die hohen Festungsmauern, insbesondere SGB V, SGB XI, der Erlaubnisvorbehalt in der ambulanten Gesundheitsversorgung und die festgeschriebenen Honorare für einzelne Tätigkeiten schützen die Festungsbewohner vor Außeneinwirkung. Dem ist auch heute nichts hinzuzufügen. Außeneinwirkung, das sind andere Akteure, „Angreifer“, beispielsweise Digitalunternehmen, aber auch externe Trends wie der demographische Wandel, der Generationswechsel in den Gesundheitsberufen mit der sich verändernden Erwartungshaltung junger Ärztinnen und Ärzte, Personalknappheit, aber auch neuen Technologien. Während auf Märkten selbständige Anpassungsprozesse stattfinden, finden Veränderungen im Gesundheitswesen erst statt, wenn Politik, hier zumeist Bundes- und Landespolitik und/oder der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bewusst entsprechende Prozesse einleiten. Die aktuelle Krankenhausreform, die die unerwünschten Nebenwirkungen der DRGs, die Mengenausweitung, beenden soll, ist ein Beispiel dafür. Vor 20 Jahren wurden die DRGs eingeführt, um das vorherige „Vollkostensystem“ abzuschaffen, spätestens seit zehn Jahren war klar, dass Korrekturbedarf besteht. Erst nach weiteren zehn Jahren folgt jetzt eine hektische Korrektur. Die doppelte oder dreifache Governance des Deutschen Gesundheitswesens (Bund, Länder, G-BA) fordert hohe Tribute. Man könnte von einem doppelten Flaschenhalsproblem sprechen: Auf der politischen Ebene konkurriert die Gesundheitspolitik mit anderen Politikbereichen um Entscheidungen, auf der gesundheitspolitischen Ebene verstopft die Vielzahl der politischen Entscheider, Bund, Länder, Selbstverwaltung notwendige Anpassungen der „Festung“ an künftige Anforderungen. Es sind also nicht „Profit-Interessen“ privater Akteure, sondern es ist die mangelnde Reaktionsfähigkeit der politischen und nachgeordneten Akteure, die eine Modernisierung des deutschen Gesundheitswesens blockieren. Und somit, das ist das tragisch Komische an der Situation, gerieren sich die Verhinderer eines sich modernisierenden Gesundheitswesens als ihre Retter. Was Plattformen leisten können Plattformen führen, allgemein gesprochen, zu einem beschleunigten Leistungswettbewerb, weil sie Anbieter und Nachfrager schneller zusammenführen. Amazon hat den Handel revolutioniert, Nischenanbieter können heute weltweit anbieten. Plattformen verändern aber auch die gesamte Akteurskonstellation. Onlinehandel hat vielfach den stationären Handel verdrängt, einerseits hatte das Kostensenkungen zur Folge, andererseits hat es den Wettbewerb unter Anbietern verschärft, aus lokalen Märkten wurden globale. Plattformen führen aber auch dazu, dass Akteure austauschbar werden. Höherer Wettbewerb führt zur Verdrängung von Akteuren, wenn sie leistungsmäßig oder kostentechnisch nicht mit Konkurrenten mithalten können. Plattformen führen zu mehr quantitativem Wettbewerb. Datengetriebene Plattformökonomie, wie sie heute stattfindet, kann aber auch zu einem qualitativen Wettbewerb führen: Jeder Akteur ist nicht nur durch ähnliche Konkurrenten bedroht, sondern auch durch eine neue, höhere Qualität konkurriender Angebote. Niedergelassene Einzelärzte treten in Konkurrenz zu Angeboten, die „skalieren“ können. Auf der untersten Stufe sind das MVZs, die durch Kostenoptimierung von Infrastruktur Skaleneffekte erzielen können. Weitergedacht und entwickelt können größere Akteure neue Diagnose- und Therapieformen entwickeln oder ihre Reichweite ausdehnen, in Gebiete beispielsweise, in denen klassische Versorgung nicht mehr gewährleistet ist. Skalierung würde auch zu einer weiteren beruf-lichen Differenzierung führen. Medizininformatiker, die neue Diagnose- und Therapieverfahren analysieren und in das Empfehlungsmanagement der entsprechenden Institution „einpflegen“. Plattformökonomie kann aus Bürgerinnen und Bürgern, aus Versicherten oder auch aus Patienten Entscheider machen. „Der Patient steht im Mittelpunkt“, lautet ein vielzitierter Spruch im deutschen Gesundheitswesen. Der Patient wird in diesem Konstrukt als Objekt betrachtet. Digitalisierung könnte, beispielsweise bei elektiven Eingriffen, über Outcome-Reportings und ähnliche Transparenzplattformen zu selbstbewussten Entscheidern werden, die nach Qualität entscheiden. Und nebenher, einer industriellen Logik folgend, durch Skalierung Kosten senken. Schon diese lediglich angedeuteten Beispiele zeigen, dass Plattformwirtschaft zu einer tiefgreifenden Veränderung – und Verbesserung – der deutschen Gesundheitslandschaft führen könnten. Dynamisierung der Governance ist überfällig Könnten. Wenn anstatt des moralisierenden, Politik und Selbstverwaltung überhöhenden Diskurses endlich mal über das Governance Versagen geredet würde. Wenn der deutsche gesundheitspolitische Diskurs nicht immer darauf abzielen würde, die Trends und Akteure „vor der Festungsmauer“ als Gegner zu betrachten. Und das, obwohl man innerhalb der „Festungsmauern“ längst um die Defizite an allen Ecken und Enden weiß: Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte finden keine Nachfolger, eine alternde Gesellschaft benötigt andere, präventive Gesundheitsstrategien, damit die Kosten nicht explodieren. Stattdessen beschränkt sich die Politik auf immer kleinteiligere Eingriffe und Steuerungen: Die Folgen sind bekannt, sie ähneln denen des englischen staatlichen Gesundheitswesens: Mangelwirtschaft, Facharzttermine werden knapper, Wartezeiten länger, die Rücklagen der Krankenkassen, politisch bereits auf Nullniveau abgeschmolzen, führen zu rigiderem Kassenverhalten. Wir können schon jetzt das Verhalten der Akteure vorhersagen: Die Kassen werden still Leistungen ausgrenzen wollen, die (verfasste) Ärzteschaft wird über Leistungskürzungen oder Kontingentierungen reden, um ihr bisheriges Geschäftsmodell (kleinteilige Einzelunternehmer mit mittelalterlich anmutenden Standes- und Einkommensgarantien) beibehalten zu können. Die Verhältnisse innerhalb der Festungsmauern sollen doch unverändert bleiben. Das Stichwort lautet: Burgfrieden. Und die Politik? Fürchtet sich vor Unruhen, das Mobilisierungspotential von Ärzten und Apothekern ist bekannt. Auch der Kurzzeitrevolutionär Lauterbach lenkt ja bereits vor seinen Länderkollegen ein: War ja nicht so gemeint ... Auch in den Gesundheitswissenschaften ist „neu denken“ gefragt. Wie könnte eine Lösung aussehen? Der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen hat immer wieder Anregungen gegeben. Allerdings immer nur Anregungen zu ausgewählten Einzelfragen. Das „Grand Design“ des deutschen Gesundheitswesens, die hohe Konsensorientierung, die Durchschnittsinteressen der Akteure am Tisch des G-BA war allerdings nie Thema seiner Gutachtertätigkeit. Dieser Verzicht aufs „Grand Design“ blockiert Veränderung. Auch andere wissenschaftliche Institute bewegen sich weitgehend innerhalb des konsensuell beschworenen Rahmens, der lautet: Veränderung muss in jedem Schritt politisch legitimiert sein, es geht nur im Konsens, die Selbstverwaltung schützt uns vor wildem Wildwestkapitalismus im Gesundheitswesen. Die gesundheitspolitische Debatte in Deutschland kennt nur zwei Alternativen: Mehr Staat. Oder ein „Weiter So“ im Selbstverwaltungsmodus. Tertium non datur, über dritte Varianten haben bisher lediglich Exoten wie Eugen Münch, der Gründer der Rhönkliniken, nachgedacht. „Netzwerkmedizin“ lautet der Titel seines 2014 erschienenen, seitenmäßig schmalen Werks, das gleichwohl eine bahnbrechende Erkenntnis enthält: Er plädiert dafür, die „Manufakturhaltung“ im Gesundheitswesen, die der Ärzteschaft einen mittelalterlichen Innungsstatus verleiht, in einen „industriellen Modus“ zu überführen. Nicht besonders sexy, diese Botschaft. Aber falsch ist sie nicht. Eine gute systemische Leistung wird unser Gesundheitswesen nur dann entwickeln können, wenn die kleinteiligen gesetzlichen Festschreibungen, der Erlaubnisvorbehalt die aufwandsbezogene Honorierung fällt und die statische Rahmensetzung in eine dynamische Beleitplankung überführt wird. Ansätze dazu gibt es in anderen Ländern: Ein populationsbezogenes Gesundheitssystem, das statt Aufwand Ergebnisse belohnt, wäre ein Ansatz, über die Plattformisierung stünden dafür zahlreiche Werkzeuge zur Verfügung. Gefragt wäre eine Politik, die Mut als Rahmensetzer für ein sich veränderndes Gesundheitswesen zeigt. Damit Akteure sich bewegen können. Und diejenigen, die sich der Veränderung verweigern, bewegen müssen. Getreu der Logik: Wer zuletzt kommt, den bestraft das Leben. Kontakt zum Autor Nikolaus Huss Managing Partner, KovarHuss GmbH, Policy Advisors, nh@kovarhuss.de

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