Diversity
Es ist wenig über die Auswirkungen des Alterns von Menschen bekannt, die intergeschlechtlich geboren wurden. Die Fachstelle „LSBTI*, Altern und Pflege“ hat eine Expertise zur Situation älterer intergeschlechtlicher Personen in Auftrag gegeben und stellt daraus abgeleitete Handlungsempfehlungen zur Verfügung.

Mit diesen Handlungsempfehlungen von Luan Pertl möchte die Fachstelle über die Situation von intergeschlechtlichen Personen im Alter und in der Pflege aufklären. Die erste Berliner „Expertise“ thematisiert u.a. folgende Fragen:
- Wie erleben ältere intergeschlechtliche Menschen den Alltag?
- Welche Hürden gibt es für sie in Berlin im Hinblick auf Teilhabe und Mitwirkung?
- Wie ergeht es kranken und pflegebedürftigen intergeschlechtlichen Menschen?
- Gibt es geeignete Unterstützungsangebote?
- Was soll sich verbessern?
- Was ist dafür notwendig?
Pflege von intergeschlechtlichen Menschen: Wo Handlungsbedarf besteht
Pertl gibt einen Einblick darüber, wie die Seniorinnen und Senioren die Situation aktuell erleben und welcher Handlungsbedarf besteht.
- Belastetes Verhältnis: In Einrichtungen besteht in der Regel wenig Wissen zu Intergeschlechtlichkeit. Es gibt selten Erklärungen zur Pflege, Zeit für den Aufbau einer Vertrauensbasis fehlt oft. Es fehlen finanzielle Ressourcen sowie Personalressourcen.
- Inter-Personen versuchen selbständig zu bleiben: Sie wollen in keine Situation kommen, in der sie Pflege brauchen.
- Klarer Bildungsauftrag an die Pflegeeinrichtungen: Menschenrechtsbasierte Workshops zur Pflege mit intergeschlechtlichen Menschen, Fortbildungen in den Einrichtungen für das Pflegepersonal können essenziell sein.
- Community: Die Frage „Wie möchte ich später leben“ ist für queere Familien sehr wichtig. Pflege innerhalb der Communitiy oder der queeren Familie soll thematisiert werden.
Pflege- und Betreuungseinrichtungen sind gefragt
Es ist eine Herausforderung, intergeschlechtliche Personen angemessen in der Pflege und sozialen Arbeit zu berücksichtigen. Es erfordert laut Pertl auf Seiten der Fachkräfte ein hohes Maß an Offenheit gegenüber anderen geschlechtlichen Körperlichkeiten und Lebensrealitäten.
Es fehle oft an Detailwissen, z.B. zu folgenden Fragestellungen:
- Wurden die Personen einer geschlechtsanpassenden Operation unterzogen?
- Wenn ja, wo liegt beispielsweise die Harnröhre?
- Wie kann ein Katheter gesetzt werden?
Ein hohes Maß an Diversitätssensibilität sei insgesamt gefragt. Die Sorge beim Pflegepersonal, etwas falsch zu machen sei sehr groß, dabei gehe es u.a. um folgende Herausforderungen:
- Wie erfolgt die richtige Ansprache?
- Wie sieht eine passende Zimmereinteilung aus?
- Wie können Fragen sensibel gestellt werden?
- Wie kann eine Basis für gegenseitiges Vertrauen aufgebaut werden?
Wichtig für das pflegende Personal ist es, ein Know-how-Paket zu erhalten, das bei der Pflege von intergeschlechtlichen Menschen Personen zu beachten ist.
„Die ‚Expertise‘ soll dazu beitragen, die heteronormativen Strukturen der Pflege- und Betreuungseinrichtungen aufzubrechen und die Einrichtungen für die Bedarfe von intergeschlechtlichen Menschen zu sensibilisieren, um in weiterer Folge mit ihnen gemeinsam einen sicheren und diskriminierungsfreien Umgang zu finden.“
Luan Pertl
Erwartungen an die Pflege
Bildung und Aufklärungsarbeit waren auch wichtige Punkte bei den befragten Personen im Rahmen der Expertise. Daraus wurden aus der Frage zu den Erwartungen an das Pflegesystem folgende Handlungsempfehlungen formuliert:
- Pflege- und Betreuungsausbildung:
Das Thema Intergeschlechtlichkeit bzw. Variationen der Geschlechtsmerkmale soll ein fixer Bestandteil der Ausbildung werden. - Fortbildungen in Einrichtungen für bestehendes Personal:
Es sollte gewährleistet werden, dass jedes neue Pflege-, Betreuungspersonal, als auch Menschen, die in der Verwaltung arbeiten, eine Sensibilisierungsfortbildung von Expertinnen sowie Experten zum Thema intergeschlechtliche Personen erhalten, um ein gewisses Grundverständnis zu erlangen. - Klare Positionierung der Einrichtungen:
Einführung von Antidiskriminierungsleitlinien zum Schutz von intergeschlechtlichen Menschen, Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale und anderen wichtigen Themen (z.B. ethnische Zugehörigkeit, Hautfarbe). - Alternative Beziehungsmodelle:
Anerkennung alternativer Beziehungsmodelle, damit gewährleistet ist, dass Menschen in diesen Beziehungsmodellen auch Entscheidungen treffen können, falls es keine Patientenverfügung gegen sollte. - Pflegebedürfnisse beachten:
Jeder einzelne Pflege- bzw. Behandlungsschritt muss vorab erklärt werden, um eine Retraumatisierung zu vermeiden. Die wunschgerechte Pflege wie auch die wunschgeschlechtliche Zimmerzuteilung müsse respektiert werden. Dies bedarf auch gewisser Aufklärungsarbeit mit den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern. - Freizeitangebote:
Aufbau und Angebot von LGBTIQA-Freizeitangeboten bzw. Besuchsangeboten: Treffen von intergeschlechtlichen Personen in der Einrichtung oder die lokale Inter-Community einladen. - Forderungen an die Politik:
Der Pflege-, Betreuungsbereich müsse mit mehr finanziellen Ressourcen ausgestattet werden, um Menschen jeglicher Personengruppe ein lebenswertes Älterwerden zu ermöglichen. Außerdem müsse die Pflege- bzw. Betreuungsausbildung LGBTIQA-sensibel und menschenrechtsbasiert sein, um Retraumatisierungen und Diskriminierungen zu vermeiden.
Leitfaden zur Pflege von Intermenschen
Die Expertise wurde von Pertl in Mitarbeit von Dr. Karin Schönpflug erstellt. Pertl ist in der Bildungsarbeit zum Thema Intergeschlechtlichkeit verortet und queer-aktivistisch tätig ist. Die Handlungsempfehlungen wurden anlässlich einer Videokonferenz der Fachstelle LSBTI*, Altern und Pflege vorgestellt. Den Leitfaden von Pertl finden Interessierte mit einem Klick hierauf.