Integrierte Versorgung Die Besten ans Bett

Ein kritisches Zwischenfazit zog die Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung e.V. (DGIV) auf ihrem Bundeskongress Ende 2022. Die Politik der Ampel lasse bislang kaum zielführende Ansätze für den proklamierten Einstieg in die bruchlose Versorgung zwischen Sektoren und Professionen erkennen. Für eine neue Kultur des Versorgens: Wie befreiend wirken da doch Brainstormings! In einem Bootcamp formulierten Studierende und „Young Professionals“ unabhängig von aktuellen Rahmenbedingungen Ansätze für ein neues Lernen. Vielfältig waren die Zielsetzungen: Wie lassen sich Kompetenzen für die unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche aufbauen, die Grundlagen schaffen für ein erfolgreiches Handeln im Sinne der Patientinnen und Patienten und in einem motivierenden „Miteinander“ der Behandlungsbeteiligten – und die Technologien einbinden, die Gesundheitsleistungen besser zugreifbar machen? Prof. Dr. Henriette Neumeyer, Mitglied im Vorstand der DKG, und Dr. Albrecht Kloepfer, Leiter des DGIV-Hauptstadtbüros Der Handlungsbedarf ist klar Fachkräftemangel sehen wir in allen Bereichen der Gesellschaft, so Dr. Albrecht Kloepfer, Leiter des DGIV-Hauptstadtbüros. „Das ‚negative Alleinstellungsmerkmal‘ im Gesundheitswesen ist die Fachkräfteflucht!“ Trotz ihrer hohen intrinsischen Motivation steigen Mitarbeitende aus. „Rund 25 Prozent der Ärzteschaft überlegt, den Beruf an den Nagel zu hängen“, zitierte Dr. Kloepfer eine kürzliche Umfrage. „Pflegekräfte steigen im Durchschnitt nach acht Jahren aus, Physiotherapeuten nach sieben Jahren“, schilderte Prof. Dr. Henriette Neumeyer in Berlin. Sie ist Mitglied des Vorstandes der DGIV und stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft e.V. (DKG). Diese Entwicklung lastet doppelt auf dem Gesundheitswesen, fuhr Kloepfer fort: „Uns gehen die Versorger aus und die älteren Menschen werden häufiger krank – somit steigt der Bedarf. Mit unserer wildgewordenen Kontroll-Bürokratie arbeiten wir bislang am Gegenteil einer tragfähigen Lösung.“ Neumeyer stellte klar: „Wir benötigen somit eine Erneuerung unseres Versorgungssystems, die auf Dauer Attraktivität schafft für Menschen, die mit hoher Motivation in ihren Beruf eingestiegen sind.“ Interprofessionell und teamorientiert arbeiten – so lauten die zentralen Aufforderungen der Bootcamp-Teilnehmenden. Gemeinschaftlich handlungsfähig sein und Entscheidungen treffen – über alle Berufsgruppen hinweg, inklusive der kaufmännisch-gesundheitsökonomisch ausgerichteten Kolleginnen und Kollegen. Die Ideen einer gleichrangigen Ausbildung und der Vollakademisierung seien sicher kontrovers zu diskutieren, fügte Neumeyer hinzu. Die neue Kultur des gemeinschaftlichen Versorgens könne jedoch einen enormen Beitrag dabei leisten, die intrinsische Motivation aufrechtzuerhalten. Neumeyer fasste die Diskussion zusammen: Es geht um einen generalisierenden Ansatz mit einer hoch angesiedelten Basiskompetenz, die je nach Fachgebiet eine weitere Zuspitzung erfährt. Dabei soll, so Stimmen aus dem Bootcamp, der Aufgabenbezug gestrichen werden: „Raus aus der Enge von Substitution und Delegation – wer etwas kann, darf es auch tun.“ Für Führungsstrategien hat dies natürlich ebenfalls Konsequenzen. Führen auf Augenhöhe ist gefordert. Top-down-Entscheidungsstrukturen sind kein Thema mehr. Laut Neumeyer lautet die zentrale Frage des Bootcamps: „Wie kann ich horizontal Entscheidungen in Ausrichtung auf den Patientennutzen treffen – in einem Netzwerk aus Menschen, die dank ihrer neuen Ausbildung eine hohe Kompetenz erhalten haben … bei gegenseitiger Anerkennung im Team?“ Anforderungen an eine neue Ausbildung In Hubs sollen gemeinsam Lerninhalte vermittelt werden – etwa Digital Health Literacy als Eckpfeiler für die Versorgung der Zukunft. Zugleich wird jedoch Lernen an konkreten Patientenfällen gefordert. Neumeyer erklärte dazu: „So treffen künftig nicht mehr fertig ausgebildete Ärzte und Ärztinnen und Physiotherapeutinnen und -therapeuten mit ihren unterschiedlichen Sprachen aufeinander, sondern das dialogische Element fördert bereits in der Ausbildung das Wissen über die Aufgaben und das respektvolle Miteinander.“ Gemeinsame Erfahrungsräume interprofessionell auf Augenhöhe – so fasste Kloepfer Kernziele zusammen, die einen echten Paradigmenwechsel mit sich bringen sollen. Utopisch und disruptiv sei das nicht wirklich. Es gibt laut Kloepfer bereits einen Leistungsbereich im SGB V, in dem dies bereits zur Anwendung kommt … übrigens mit gemeinsamer Abrechnung: die Palliativversorgung. „Dieser Ansatz macht bei den Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen einen tatsächlichen Unterschied“, fügte Neumeyer hinzu. Weitere Anwendungsgebiete seien die spezialisierte ambulante Diabetesversorgung und die spezialisierte intersektorale Herzinsuffizienzversorgung. Daher fordere die DGIV ein dediziertes Kapitel im SGB V für interdisziplinären und intersektoralen Versorgungsbedarf, so Kloepfer. Neumeyer forderte ein Ende der Bestrafung solcher Ansätze durch Hindernisse bei Vergütung und Berufsrecht. Technologie als Enabler Ohne eine – auch asynchrone – Kommunikationsstruktur mit nahtlosem Austausch von Patientendaten wird dies alles nicht gelingen, betonte Neumeyer, „hier setzen wir Hoffnung auf den TI-Messenger“. Die Entwicklung und Anwendung entscheidungsunterstützender Systeme erfordere die Gestaltung unter Einbindung interprofessioneller Ansätze. Zuerst müssen aber, so Kloepfer, Spielregeln zu Vergütung und Bedarfsplanung im SGB V geklärt werden; die Digitalisierung bedingt kein Verschwinden der Sektorgrenzen. Die Leistungsträger für die Versorgung von morgen müssen wir heute abholen – in der Ausbildung und in der täglichen Arbeit, so Neumeyers Fazit. Nur so lassen sie sich nachhaltig für unsere Versorgung binden. Die Besten ans Bett! Kontakt zum Autor: Michael Reiter, michael.reiter-pr@gmx.de

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