Gewalt gegen Pflegebedürftige Hohe Dunkelziffern und rechtliche Grauzonen

Pflegefachpersonen sind zunehmend überlastet und erschöpft. Doch ihre Schützlinge verlangen Aufmerksamkeit und liebevolle Zuwendung. Ein moralisches Dilemma, das die Sorgen der Pflegenden weiter steigert. Die Folgen: kalte Routinen und fruchtbarer Nährboden für häufig unabsichtliche Gewalt. Wie Einrichtungen gewaltfördende Muster erkennen und ändern können.Zum Essen zwingen, grob anfassen oder anschreien. Pflegende können ihre Patienten auf unterschiedliche Arten verletzen. Vor allem an Demenz Erkrankte kämpfen mit schnell wechselnden Launen, Wutausbrüchen oder verwirrten Handlungen wie Weglaufen. Oft müssen Pflegende mit Nachdruck durchsetzen, was eigentlich gut für ihre Schützlinge ist. Eine besondere Rolle spielen dabei auch freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM), die unter Umständen sogar juristische Konsequenzen nach sich ziehen können. Doch wo beginnt Gewalt in der Pflege? Dass sie zum Alltag gehört, zeigt eine Studie der B. Braun-Stiftung und des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung (DIP). Nahezu ein Drittel der befragten Pflegefachpersonen hat demnach „eher häufig“ oder „sehr häufig“ in den letzten drei Monaten erlebt, dass Pflegemaßnahmen gegen den Willen von Patienten oder Pflegebedürftigen ergriffen wurden. Jeder zehnte Befragte hat sogar darüber hinaus gehende Gewalt gegen Patienten beobachtet. Doch die Dunkelziffer dürfte höher sein, denn Scham und Schuldgefühle bremsen die Erforschung von Gewalt in der Pflege. Teilweise werden die Handlungen auch gar nicht als solche erkannt. Das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) unterscheidet daher fünf Gewaltformen: körperlich, psychisch, Vernachlässigung, finanzielle Ausbeutung und intime Übergriffe. Die unabhängige Stiftung befragte 250 Pflegedienstleitungen und Qualitätsbeauftragte was sie am häufigsten in ihrem Alltag beobachten. Aggressivität, Vernachlässigung und körperliche Gewalt wurden dabei als häufigste Form der Verletzung von Patienten und Pflegebedürftigen eingeschätzt (Abb. 1). Pflegende stumpfen abAls Ursachen für den unabsichtlichen „rauen Umgang“ nennt die Ethikkommission der Pflegekammer Niedersachsen organisatorische Zwänge und Ressourcenmangel. So heißt es in einer Pressmitteilung im Juli 2020: „Die Lebenswirklichkeit in der stationären Altenpflege ist geprägt von einer Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die Pflegenden sind sich der Verletzlichkeit und Abhängigkeit von Bewohnern bewusst. Die Arbeitsbedingungen mit Zeitdruck und chronischem Personalmangel verhindern jedoch oftmals den notwendigen Beziehungsaufbau. Die Überlastung und Erschöpfung der Pflegenden sowie fehlende Beziehungskompetenzen führen zu moralischem Stress und zu einem Abgleiten in kalte Routinen.“ Hilfe durch WhistleblowerUm das seelische Abstumpfen zu verhindern, fordert die Ethikkommission daher den Aufbau anonymer Hinweisgebersysteme und mehr Gewaltprävention: „Verbale Aggression und das Brechen des Widerstandes von Bewohnern werden als übliche Vorgehensweisen entschuldigt und gerechtfertigt. (…) Pflegende müssen für das Thema Gewalt sensibilisiert werden, damit gewalttätige Handlungen nicht Bestandteil des Alltags werden.“ Auch das ZQP sieht in der Prävention einen Schlüssel dafür, dass es gar nicht erst zu verletzendem Verhalten kommt. Unter www.pflege-gewalt.de hat die gemeinnützige Stiftung Tipps und Arbeitsmaterial zusammengestellt, um angemessen mit problematischen Situationen umzugehen (Abb. 2). Schutz oder Freiheitsberaubung?Auch Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen zeigt das ZQP auf der Website auf. Denn Bettgitter, Fixierungen oder Ruhigstellen durch Medikamente liegen in einer rechtlichen Grauzone der Pflege. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit kollidiert mit dem Recht auf Freiheit der Person, das sogenannte Selbstbestimmungsrecht. Beide Rechte werden in Artikel zwei des Grundgesetzes geschützt. Wenn keine Einwilligung besteht, kann man sich also unter bestimmten Bedingungen der Freiheitsberaubung nach § 239 StGB strafbar machen. Laut Website des ZQP schaden nach aktuellem Wissensstand FEM mehr, als sie nutzen. Sie können z.B. zu Stress, Aggressionen, Halluzinationen oder Verletzungen führen. Routinen hinterfragenSo ist es auch aus Sicht der Ethikkommission der Pflegekammer Niedersachsen ratsam, gar nicht erst in das Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmungsrecht und Körperverletzung zu geraten. Denn „Fixierungsmaßnahmen werden häufig mit dem vermeintlichen Schutz vor Stürzen und der Bewegungsunruhe von Menschen mit dementiellen Veränderungen begründet. Institutionen, die ein solches Verhalten tolerieren, schaffen die Voraussetzung zur Realisierung von Gewalt.“ Teams in Kliniken und Pflegeheimen sind also immer mehr gefordert, gewaltfördernde Routinen zu hinterfragen, um ihre Patienten aber auch sich selbst zu schützen. Sabrina Demmeler

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