Digitalisierung und Entscheiderfabrik
Basel, im vorweihnachtlichen Schneeregen: Mehr als hundert Vertreterinnen und Vertreter aus Krankenhaus, Gesundheits-IT, Wissenschaft und Industrie sowie zahlreiche Online-Teilnehmende kamen zur dritten HIE-Konferenz auf internationaler Ebene zusammen.
HIE steht für Health Information Exchange – den Austausch von Gesundheitsdaten. Veranstaltet wurde das hochkarätige Treffen zu diesem dynamischen Themengebiet im Basler Universitätsspital (USB) von AHIME, der Fortbildungs-Akademie der Entscheiderfabrik. In seinem Mittelpunkt standen Mitte Dezember 2022 Standards, Digitalstrategien und Best Practice aus Benelux, Deutschland, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz und den USA.
Für die deutschen Stakeholder verstärkt das aktuelle politische Streben nach regionaler Zusammenarbeit zwischen Trägern – kürzlich gefordert von der Regierungskommission –, den Druck, Daten mit Leistungspartnern sowie Patientinnen und Patienten auszutauschen. Dass noch viel zu tun ist, bis sich die verfügbaren Standards wie HL7 FHIR und OpenEHR sowie Prozessprofile von IHE durchsetzen und zum nahtlosen, medienbruchfreien „Data sharing“ führen, wurde in Basel deutlich. Die Vorträge vermittelten auch, dass in einigen der deutschen Nachbarländer dieses Ziel ebenso wenig erreicht ist. So hängt das EPD, das schweizerische elektronische Patientendossier, seinen vorgegebenen Meilensteinen in der Durchsetzung spürbar hinterher; und die Finanzierung des Technologieeinsatzes, ursprünglich angedacht über Mehrwertservices der 18 Stammgemeinschaften (kantonsbezogene Nutzernetzwerke), liegt in weiter Ferne. Eine große Schwäche des EPD-Gesetzes von 2017, das sich nun vor seiner Erneuerung befindet, liegt dabei in der „doppelten Freiwilligkeit“ der EPD-Nutzung für Niedergelassene und Patientinnen und Patienten. Das Teilen von Daten endet an Kantonsgrenzen.
Internationaler Vergleich zum Datenaustausch
Vorbildhaft erscheint im Vergleich die Situation in den Niederlanden, wie ja bereits das Entscheiderfabrik-Sommercamp in Rotterdam gezeigt hatte. Und das Rady Children’s Hospital mit Basis in Kalifornien setzt seit Jahren auf die datenbasierte Kommunikation zur Erreichung einer Vielzahl von Zielen. Zu ihnen zählen die Verstärkung der Patientenbindung, die Unterstützung des Verlaufsmonitorings, die Optimierung der Forschung unter Einbezug von Genomik und die Verbesserung von Outcomes. Wichtig zum Verstehen der Herausforderungen ist, dass Rady neben einem eigenen Kinderkrankenhaus auch Pädiatrien in einer großen Zahl kooperierender Krankenhäuser betreibt – künftig vermehrt in weiteren Bundesstaaten. Dabei geht dank eingesetzter Standards der Datenaustausch über die Welt von EPIC hinaus – das ist der US-marktbeherrschende KIS-Anbieter, den auch Rady verwendet.
Praxisbeispiel für Datenaustausch: das Unispital Basel
Und wo steht der Gastgeber bei der Umsetzung des Datenaustausches? Juri A. Toffol verantwortet Medizinische Services / Digitalisierung & ICT. Das USB, eines von fünf Universitätsspitälern in der Schweiz, betreibt das größte Notfallzentrum im Nordwesten des Landes und stellt einen Ausbildungsschwerpunkt dar. Im Jahr 2021 betreuten hier laut Toffol mehr als 7.900 Mitarbeitenden über 40.000 Fälle stationär und 1,3 Millionen Fälle ambulant.
Im Kontext der Digitalisierung zeigt sich in Basel eine heterogene IT-Landschaft. Zentrales Ziel ist, Informationen digital zu erfassen und der weiteren Nutzung zuzuführen. Noch komplexer wird dies durch große Bauvorhaben mit dem Ziel eines „Campus Gesundheit“. Wie auch das Klinikum Rechts der Isar und weitere Häuser, die beim HIE Summit präsentierten, vertraut das USB auf einer Plattformstrategie. Diese soll den künftigen Austausch von Daten ebenso gewährleisten wie die Nutzbarkeit zur Extraktion wertvollen Wissens für klinische und administrative Zwecke. Verschiedenste Quellen wie etwa das System von Meona, erklärte Toffol, speisen schon heute die Interoperabilitätsplattform health engine von i-engineers. Die Visualisierung aktueller Daten im bedienerfreundlichen Dashboard kommt für Steuerungszwecke zum Einsatz. Die Plattform dient auch zur Absicherung gegen Ausfall – mit einem Zeitversatz rund 30 Minuten.
Die Situation im Datenaustausch in Deutschland
Den Status in Deutschland stellte Karsten Honsel dar. Das KHZG übe insbesondere Zwänge und Druck auf die Kleinstgruppen der IT-Mitarbeitenden in Krankenhäusern aus, sagte der Hauptgeschäftsführer der Alexianer. Dies sei mit ein Grund für das schleppende Vorankommen der Digitalisierungsprojekte. Der KHZG-Terminrahmen sei zu eng, Ausschreibungen brächten zu viel Bürokratie, eine Anschlussfinanzierung von Lizenzen und Wartung sei nicht in Sicht. Zu den HIE-Herausforderungen in Deutschland zähle, dass eine sektorenübergreifende Patientenidentifikation kaum möglich sei. Außerdem sei das Gesundheitssystem nicht darauf angelegt, auf Patientenebene zu denken. Fehlende Ressourcen führten zu einer Überhitzung im Markt.
Als zentrale Herausforderung beurteilt Honsel die Prozessvorgaben durch IT-Hersteller: „Die angeschafften Systeme kommen sukzessive in die Umsetzung. In diesem Verlauf wird deutlich, wie wenig vorbereitet die Mitarbeitenden in den verschiedenen Krankenhausabteilungen darauf sind, dass ihnen diese IT-Systeme neue Prozesse vorgeben werden“. Change-Management bekomme somit eine maßgebende Rolle auf dem Weg zum Umsetzungserfolg.
Storytelling für das Change-Management
Vernetzung und Interaktion unter Einbezug der Mobilität – hierauf zielt das neue Intranet im KVSW Sindelfingen, erläuterten Andrea Rens von der Unternehmenskommunikation des Klinikverbundes und Bernd Sadlo vom Anbieter Kapsch. Kennen, können, wollen – das seien die Meilensteine auf dem Weg zur gelebten Nutzung solcher Systeme. Den Weg zum Erfolg, so Rens, wollen die Sindelfinger durch Emotionalisieren ebnen, statt nur zu informieren. Das Rezept laute, die rund 6.000 Mitarbeitenden in ihrer Diversität dazu zu motivieren, aktiv mitzumachen – durch die Entwicklung einer Story vor dem Hintergrund des Kulturprozesses. Die Unternehmensvision dient dabei als Richtungsgeber; gemeinsame Werte bilden die Leitplanken der Zusammenarbeit.
Vielversprechende Plattformen
Syntaktische und semantische Interoperabilität auf Basis standardbasierter Datenstrukturen – diese Eigenschaften müssen Plattformen bieten, um das Heben von Datenschätzen zu ermöglichen. Dies machten André Sander von ID Annett Müller von DMI deutlich. „Wir sollten Patientenportale als stetig wachsende Ökosysteme betrachten“, sagte Bodo Hubel von mDoc; Krankenhäuser sollten Content Manager einführen, um die Generierung von Mehrwerten zu ermöglichen. Und die vitagroup präsentierte das Clinical Data Repository als Daten-Backend. So erlaube datengestütztes CKD-Management (für chronische Nierenerkrankungen) die frühe präzise Erkennung von Stadien der Erkrankung und ihres Fortschreitens, sie erhöhe die Häufigkeit der Überwachung und unterstütze die Nachverfolgung. Kosten ließen sich somit einsparen, Personal besser einsetzen und die Lebensqualität der Patient:innen erhöhen.
Datenaustausch: Cloud First!
Dabei sei die Datenhaltung nicht mehr eine Aufgabe für das Spital, unterstrich Martin Pfund vom Kantonsspital Graubünden (KSGR). Höchste Sorgfalt und Diskretion seien im Umgang mit Patientendaten gefordert – und genau deshalb gehörten die Daten in die Cloud! Die Sicherheitsvorteile ließen sich vergleichen wie bei Flugzeugen („Cloud“) gegenüber Autos („on premise“). Der CIO illustrierte seinen Ansatz mit einem aktuellen Beispiel: „Schweizer Admins schlafen – 2.800 Server warten auf ein Sicherheitsupdate!“. Nachdenken sollten Verantwortliche über Multi-Anbieter-Engagements in der Cloud anstelle eines Vendor-Lock-ins.
Produktivität steigern bei Personalknappheit, Innovation fördern – aus diesen klaren KSGR-Strategiezielen leiten sich laut Pfund Architekturprinzipien für die Cloud ab. „Cloud First“ ist im Spital das Credo für alle neuen oder abzulösenden Applikationen. Das Containern von Daten schaffe Zukunftsfähigkeit. „SaaS vor PaaS vor IaaS“ – so die technische Skalierung (Software as a Service, Platform as a Service, Infrastructure as a Service).
Eine engagierte Panelrunde mit Krankenhausvertretern und -vertreterinnen sowie mit Sprechern des Anbieters Nutanix verdeutlichte die Gründe für eine Entscheidung zur Cloud. Neben der Befreiung des Personals von technologienahen Tätigkeiten zählen hierzu Flexibilität, Effizienz und Kosteneinsparungen, die rasche Realisierung von Mehrwerten neuer Lösungen, Ausfallsicherheit und eine sanftere Transformation. Vielversprechend, so die Runde, sei das Konzept eines „autonomen Rechenzentrums“ für klinische und nichtklinische Anwendungen ähnlich wie die Entwicklung hin zum autonomen Fahren.
Der grenzüberschreitende Austausch (man beachte das Wortspiel) wurde von den Teilnehmenden sehr positiv angenommen. Im nächsten Jahr lädt die Entscheiderfabrik/AHIME zum HIE Summit nach Österreich ein.