Auf dem Europäischen Gesundheitskongress in München wurde diskutiert, wie robust, digital und patientendemokratisch das Gesundheitswesen schon heute ist. Was sich ändern muss und Visionen für die Zukunft – dem gingen Expertinnen und Experten aus der Branche und Politik nach.

Gleich zu Beginn des 20. Europäischen Gesundheitskongresses (EGKM) gab Klaus Holetschek, Staatsminister für Gesundheit und Pflege, eine inspirierende Rede. Er betonte u.a., dass jetzt die Zeit sei, sich gemeinsam aufzustellen, um ein Jahrzehnt der Gesundheit und Pflege zu schaffen. „Wenn nicht jetzt, wann dann?“, fragt er. Kongresspräsident Prof. Dr. Karl Max Einhäupl ergänzte Holetscheks Frage nach dem Wann um das Wer: „Wenn nicht wir, wer sonst?“.
Holetschek stellte das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG), die Finanzierung im Gesundheitswesen, die Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD), die Vernetzung der Sektoren sowie Klima- und Gesundheitsschutz als zentrale Themen in den Mittelpunkt. Auch Claudia Küng, Kongressleiterin, stellte fest, dass einige dieser Themen seit 20 Jahren beim EGKM diskutiert würden. Eine sektorenübergreifende sowie länderübergreifende Zusammenarbeit ebenso wie eine Krankenhausstrukturreform sei seit Beginn des EGKM immer wieder Thema gewesen. Sie freute sich darüber, dass die Pflege nun mehr im Fokus stehe – das sei vor 20 Jahren noch nicht so gewesen. Allerdings stellte sie auch fest: „Es wird mehr aufs Geld geschaut.“ Finanzthemen hätten einen größeren Stellenwert als noch vor 20 Jahren.
Holetschek plädierte dafür, Gesundheit nicht vom Finanzsystem her zu denken, sondern vom Menschen. Wir bräuchten „keine Kapitalisierung der Versorgung“, erklärte er. Außerdem sprach sich Holetschek für ein Entbürokratisierungsprogramm aus, denn Bürokratie und Regulierung seien die Geiseln des Gesundheitssystems. Einhäupl betonte, um im Gesundheitswesen etwas zu bewegen, bräuchte es Initiativen und Begeisterung, aber auch Menschen, die Ideen umsetzen. Er glaubt, dass es ein „Umsetzungsproblem“ im Gesundheitssystem gebe.
Ist das Gesundheitssystem robust, digital und patientendemokratisch?
In der Eröffnungsdiskussion zum Motto „Der Beginn einer neuen Ära im Gesundheitswesen: Robust, Digital, Patientendemokratisch“ diskutierten Expertinnen und Experten aus der Gesundheitsbranche darüber, welche Wege es geben kann, robust, digital und patientendemokratisch zu agieren.
Ein robustes System
Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK Gesundheit, sagte, dass die duale Finanzierung über die private Krankenversicherung (PKV) und gesetzliche Krankenversicherung (GKV) im Krankenhausbereich nicht reiche, um laufende Kosten sowie Innovationskosten zu decken. Prof. Dr. Jens Scholz, Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, gab dem Finanzierungssystem ebenfalls kein gutes Urteil und nannte es „nicht robust“. Ärzte bzw. Ärztinnen und Pflegende seien falsch verteilt. Würde man 800 Krankenhäuser schließen, hätte man kein Problem mit zu wenig Fachkräften, sagte er. Storm betonte, die regionale Nähe müsse in einem gesunden Verhältnis zur Spezialisierung stehen. Um robust zu werden, sprachen beide von einer nötigen Strukturänderung. Dr. Lisa Federle, Ärztin und Pandemiebeauftragte der Stadt Tübingen, war der Ansicht, es müsse eine zentrale Vorgabe vom Staat geben und eine dezentrale Steuerung durch die Kommunen, um robuste Systeme zu erhalten – so ihre Erfahrung aus der Corona-Krise.
Ein digitales System
Um die Vorteile der Interoperabilität zu nutzen, müssten Daten vernetzt werden, betonte Scholz. Patienten und Patientinnen kämen im Krankenhaus in eine „IT-Steinzeit“ und das sei nicht zeitgemäß. Laut Storm bräuchte es eine Änderung der Grundsystematik beim Umgang mit digitalen Anwendungen, um nutzerfreundlicher zu werden. Als Beispiel nannte er die elektronische Patientenakte (ePA): Bei dieser sei ein Opt-In – aktive Bestätigung des Nutzers, um die ePA zu nutzen – nötig, anstatt eines Opt-Outs. Daher nutzten nur 0,2 Prozent der Bevölkerung diese.
So sei etwa bei der Digitalisierung eine fundamentale Diskussion nötig, u.a. über den Umgang mit Gesundheitsdaten. „Es kann nicht sein, dass die Amazons und Googles dieser Welt sich zu großen Gesundheitsunternehmen und Forschern entwickeln und wir nur noch hinterherlaufen“, kritisierte Holetschek.
Thomas Kupczik, Co-Vorsitzender der Geschäftsführung Alloheim Seniorenresidenzen, sprach sich aus Sicht der Pflege für digitale Anwendungen aus, die v.a. das Personal entlasten. Zum Beispiel im Bereich digitaler Kommunikation: „Patient/Patientin-Angehörigen-Leistungserbringer-Kommunikation“, nannte er dies.
Ein patientendemokratisches System
Patientendemokratisch ist ein System, wenn es „eine Gesundheitswelt aus Sicht der Patientinnen und Patienten [schafft], die ihn in alle Entscheidungen integriert“, definierte Daniel Dettling, Gründer der Denkfabrik, Institut für Zukunftspolitik, Leiter des Berliner Büros des Zukunftsinstituts. Gut aufgeklärte und mitbestimmende Patientinnen bzw. Patienten seien wichtig, damit sie auch Bereitschaft zeigen, den Behandlungsweg mitzugehen, bestätigte Federle. Auch für eine Verbindung von Patientendemokratie und Digitalisierung sei mehr Aufklärung nötig: Kupczik forderte, die Bürger und Bürgerinnen mehr darüber aufzuklären, dass Daten einen hohen Nutzen haben für die zukünftige Versorgung und andere Patientinnen und Patienten.
Neuordnung Krankenhausstruktur – gibt es ein Zielbild?
Ausgangspunkt für die Diskussion zur Reorganisation der Krankenhauslandschaft war der Vortrag von Scholz zum Zielbild einer Versorgungskaskade. Er schlug ein gestuftes Gesundheitssystem vor, in dem das Universitätsklinikum (UK) den Dirigenten spielt, Rahmenbedingungen aber von Bund und Ländern gestellt werden. Die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass spezialisierte Krankenhäuser benötigt würden, und nicht alle im Moment verfügbaren Krankenhäuser wichtig seien. Beispielsweise wurden an Corona Erkrankte, die eine extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO) brauchten, in Dreiviertel der Fälle in den Universitätskliniken behandelt und somit von Spezialversorgern. Man könne in Deutschland von den Dänen lernen, die mit einer geringeren Krankenhausdichte ein erfolgreiches Gesundheitssystem hätten: Dann hätte ein Bundesland wie Schleswig-Holstein nur acht Krankenhäuser statt im Moment 92, führte Scholz an. Peter Mandrup Jensen, stellvertretender Vorsitzender der Dänischen Gesellschaft für Management im Gesundheitswesen, erklärte dazu, dass in Dänemark die Verteilung der Krankenhäuser durch die Politik gesteuert wird, es werden an den Orten Krankenhäuser geplant, wo der Zugang für die meisten Personen möglich sei.
Die Zukunft der Krankenhauslandschaft werde durch drei Treiber bestimmt, erklärte Scholz:
- Demografie,
- Digitalisierung und
- Pandemic Preparedness.
Das Ziel sei, Patientendaten zusammenzubringen, um Erkenntnisse zum Wohle der Patientinnen und Patienten zu gewinnen. Dies könne durch ein Zusammenspiel nationaler und regionaler Vernetzung geschehen. Hierfür sei eine horizontale Vernetzung der UK und eine vertikale Koordinierung durch die UK in den verschiedenen Regionen nötig, die Scholz als „Dirigentenfunktion“ beschrieb.
Der Steuerung durch die UK widersprach Dr. Benedikt Simon, Harkness Fellowship in Health Care Policy and Practice des Commonwealth-Fund, und bewertete die Lösung der Dänen, die Steuerung über den Hausarzt/die Hausärztin zu machen, positiv. Geschäftsführer der RoMED Kliniken Dr. Jens Deerberg-Wittram und Alexander Schmidtke, Hauptgeschäftsführer Regiomed-Kliniken, hätten die Vision einer Versorgung der Regionen als politischen Auftrag mit regionalen Budgets. Schmidtke betonte, dass die Dirigentschaft der UK nicht die finale Lösung sein könne.
Aus Sicht von Österreich sprach Dr. Gerald Fleisch, Geschäftsführer Vorarlberger Krankenhaus-Betriebsgesellschaft, und Seitens der Schweiz war der Leiter Direktionsstab am Universitätsspital Basel, Dr. Henrik Pfahler, vertreten. Fleisch und Pfahler stellten fest, dass sie ähnliche Probleme haben wie die deutschen Kollegen. Eine Reorganisation des Gesundheitssystems sei auch in Österreich nötig, erklärte Fleisch, er sei jedoch kein Fan von Krankenhausschließungen. Eine „Lesson Learned“ aus der Corona-Krise für ihn: es könne funktionieren, wenn der Staat steuert oder mindestens begleitet. Pfahler sprach sich gegen eine zentrale Steuerung im Gesundheitswesen aus und schlug vor, ein Netzwerk aufzubauen, und nicht der UK oder dem Hausarzt das alleinige Dirigentenrecht zu geben.
Fazit: Mut zur Veränderung
Ob Krankenhausstrukturen, Digitalisierung oder Patientendemokratisierung: Grundlegende Reformen wurden über alle Themen hinweg gefordert. Der europäische Gesundheitskongress in 20 Jahren muss neue Schwerpunkte setzen können. Daher wird von der nächsten Regierung mehr Mut zur Veränderung verlangt. Holetschek appellierte bereits in der Eröffnungsveranstaltung, das Gesundheitswesen neu zu justieren. Die Politik dürfe nicht weiter „in Trippelschritten vorangehen“. Küng stellte den Kongressspirit heraus: Die Erfahrungen aus der Krise nutzen, um das Gesundheitswesen zu verbessern. Wenn die neue Ära nicht jetzt beginnt, wann dann.
Der nächste Europäische Gesundheitskongress München findet am 6. und 7. Oktober 2022 statt. |