Qualitätsmanagement
Menschen mit Alzheimer, Delir oder Depressionen aus der Apathie zu lösen, fordert viel Kraft. Mit der Tovertafel gelingt das nahezu spielerisch. Im Geriatrischen Zentrum am Universitätsklinikum Mannheim (UMM) ist die Pflegeinnovation aus den Niederlanden schon im Einsatz.

Seifenblasen schweben bunt schillernd über den Konferenztisch. Bis sie zerplatzen. In diesem Fall jedoch tun sie das nur, wenn sie von Hand „berührt“ werden. Sie machen das mit einem leisen „Plopp“. Fragend blickt Anneliese Blüm auf das Geschehen. Ergotherapeutin Silke Wehe zeigt auf das kleine kastenförmige Lichtprojektionssystem an der Raumdecke: Die von der niederländischen Industriedesignerin Hester Anderiesen Le Riche entwickelte Tovertafel (niederländisch für Zaubertisch) arbeitet auf Basis Künstlicher Intelligenz.
„Das Gerät wirft nicht bloß Bilder auf die Tischplatte, sondern erkennt auch, ob und wie wir unsere Hände bewegen“, erklärt Wehe. Deshalb lasse sich mit den virtuellen Seifenblasen spielen. „Mit echten Seifenblasen geht das doch auch sehr gut“, sagt die hochbetagte Patientin des Geriatrischen Zentrums an der Universitätsmedizin Mannheim. „Na, warum nicht mal so?“, beschließt sie nach einer kurzen Pause. Seit zwei Wochen ist sie wieder hier im Klinikum. Ein Sturz war diesmal der Auslöser. „Der Körper will einfach nicht mehr mitmachen“, erzählt sie. Nun probiert sie zusammen mit Hans-Detlef Laubner die Tovertafel aus. Der Patient mit einer beginnenden Demenz kennt die Spiele bereits und sie gefallen ihm.
Aufmerksam begleitet von Wehe, jagen die beiden gemeinsam Schmetterlinge, ergänzen vertraute Sprichwörter und Reime und lassen Blumenblüten wachsen. Als Laubners Lieblingsspiel aufleuchtet, ist er mit einem Mal hellwach. Herbstlaub bedeckt jetzt die Oberfläche. Mit beiden Händen fegt er die bunten Blätter beiseite und tastet nach den darunter krabbelnden Käfern, die sofort auf und davon schwirren. „Das ist lustig“, sagt er sichtlich amüsiert. Blüm amüsiert sich mit.
Aktivierung und Zuwendung statt Medikamente
Heinrich Burkhardt, Direktor der IV. Medizinischen Klinik Geriatrie der UMM, erklärt, dass es für seine Patientinnen und Patienten um sehr viel mehr geht: „Eine schwere Erkrankung ist immer eine existenzielle Bedrohung. Sie verlieren ihre Normalität. Sie verlieren die Kontrolle über ihren Alltag. Und bei der Demenz ist das ganz große Thema der Verlust des eigenen Selbst.“ Die zu Behandelnden kommen mit vielfältigen Symptomen. „Sie haben meist ein Delir, also eine Störung des Bewusstseins, aber auch eine Entzündung oder eine Herzschwäche oder sind hingefallen“, sagt der Geriater. „Und wir haben als medizinische Fachkräfte die Aufgabe, diese vulnerablen Patientinnen und Patienten zu schützen und ihr Selbstvertrauen zu fördern. Das Bewusstsein dafür geht mit unserer hochtechnisierten, auf die einzelnen Organfunktionen ausgerichteten Medizin zunehmend verloren.“
Trotz klarer Leitlinien werde etwa bei demenziellen Erkrankungen zu einseitig auf Neuroleptika gesetzt. „Den erkrankten Menschen in erster Linie ruhig stellen zu müssen, ist eine weit verbreitete Fehlmeinung. Keine Frage: Wir müssen Medikamente einsetzen, wenn die Menschen in schwere Krisen kommen, wenn sich nicht tolerierbare Verhaltensauffälligkeiten einstellen. Aber die Medikamente sind nur die Leitplanken. Die Brücke über diese Schlucht der Krise, der Gefährdung, ist die Aktivierung und Zuwendung, erklärt Burkhardt. Das gelinge gerade auch mit Hilfe solcher Instrumente. „Entstressen“ nennt er das. „Die Tovertafel unterstützt uns dabei, die Menschen in ihrem Selbst zu stärken und eine positive Perspektive für sie und ihre Angehörigen zu eröffnen.“
Aha-Erlebnisse auf Patientenseite
Von der niederländischen Innovation waren Wehe und ihr Team sofort begeistert. „Wir haben die Tovertafel zunächst für zwei Wochen testen dürfen. Uns war schnell klar, wie vielseitig und effektiv wir sie einsetzen können.“ Doch der Anschaffungspreis liegt bei mehreren tausend Euro. Geld, das für solche Zwecke nicht immer leicht aufzubringen sei. Wehe wendete sich daher an die Alzheimer Gesellschaft Mannheim. Die reagierte erst zögerlich. „Es sind inzwischen so viele digitale Unsinnigkeiten auf dem Markt. An Demenz erkrankte Menschen vor ein Display zu setzen und virtuell zur Leistung zu animieren, so etwas hätten wir niemals unterstützt“, erklärt Sabine Schulz, Gründerin und erste Vorsitzende der Alzheimer Gesellschaft Mannheim.
Über die Tovertafel habe sie sich daher gründlich informiert, mit spezialisierten Neurologen und Psychiatern gesprochen, mit einer Einrichtung telefoniert, die sie bereits nutzte. „Ich konnte schnell feststellen, dass es hier um keinerlei Leistungsanreize geht, bei denen die Patienten ein Negativ-erlebnis nach dem anderen haben, sondern um Glücksmomente durch die gemeinsame Interaktion. Die Experten und Expertinnen reagierten mit großer Zustimmung. Das sei genau das, was wir brauchen.“ Die Investition habe sich mehr als gelohnt: „Das gemeinsame Spiel weckt schlummernde Ressourcen. Die Patienten und Patientinnen erfahren: Ich kann etwas.“ Solche Aha-Erlebnisse ließen sich mit herkömmlichen Therapiemitteln kaum herstellen. Davon ist die langjährig erfahrene Begleiterin an Demenz Erkrankter und ihrer Angehörigen überzeugt.
Beim Toverspiel mit den Noten hatte Blüm sofort eingestimmt, sang vergnügt jede Strophe. Und dann schwärmte sie von ihrer Zeit im Chor als junges Mädchen, von ihrem ersten Auftritt vor großem Publikum. „Ziel erreicht!“, freut sich Wehe. Das spüren auch die Pflegenden, noch dazu in Zeiten von Corona. Für Pflegekraft Katja Daub und ihr Team bedeuteten besonders die ersten Hochphasen der Corona-Pandemie eine Herkulesaufgabe und eine enorme Belastung: „Wir fanden kaum noch Zeit für den einzelnen Patienten und sahen regelrechte Rückschritte. Das war hart.“ Die Tovertafel schätzt das Team der Geriatrie am Mannheimer Klinikum auch deshalb. Die Menschen blühten auf, seien zufriedener und besser gelaunt, so die Beobachtung der Pflegekräfte. Außerdem werde öfter gelacht und mehr geredet. Inzwischen verlangten die Patienten und Patientinnen ganz aktiv nach dem Zaubertisch.
„Musik ist im Gehirn stark verankert. Deshalb können Menschen, die bereits Schwierigkeiten haben, ein Gespräch zu führen, oft noch einen ganzen Liedtext flüssig mitsprechen. Musik wirkt zudem aktivierend.”
Marije Seinen, Spieleentwicklerin
„Muzikbox“ für die Tovertafel
Die Tovertafel wirft das Bild einer Jukebox auf den Tisch. Aus ihr rollen Musiknoten zu den Klängen weltweit populärer Hits aus der Zeit vor 1970 über die Tischplatte. Zum Mitspielen laden virtuelle Trommeln ein. Jeder Treffer beim Mittrommeln erzeugt zusätzliche Klänge. Die „Muzikbox“ ist mit internationalen Hits wie ‘Que Sera, Sera’ und ‘Les Champs-Elysées’ ausgestattet. Denn viele der Seniorinnen und Senioren kennen die Schlager aus ihrer Jugend und können sie trotz fortgeschrittener geistiger Einschränkungen gut aus dem Gedächtnis abrufen. Durch ihren eindeutigen Rhythmus können Anwenderinnen und Anwender leicht mitklatschen oder auf den Tisch klopfen und werden so ganz intuitiv zu rhythmischen Bewegungen angeregt. „Muzikbox“ sei sensorisch anspruchsvoll und somit für alle Menschen mit Demenz erlebbar, egal in welchem Stadium der Demenzerkrankung sie sich befinden. Die Spielerinnen und Spieler können einfach nur zuhören, die Musik genießen, mitsingen, sich im Takt bewegen oder mitspielen. Auch in sozialer Hinsicht passiert etwas mit den Spielenden: Einige beginnen, gemeinsam zu singen. Und auch wenn man nicht am Tisch sitzt, nimmt man teil: Die Musik hört man im gesamten Raum. Seit Juni 2022 ist die „Muzikbox“ erhältlich.
Wissenschaftlicher Hintergrund
Hintergrund der Entwicklung sind Erkenntnisse aus der neuropsychologischen Forschung. Ihnen zufolge speichern wir eingängige Melodien im Musik-Langzeit-Gedächtnis der Großhirnrinde ab. Dort sind die Informationen sogar noch dann abrufbar, wenn bei einer Demenzerkrankung das Gedächtnis zunehmend nachlässt [https://www.mpg.de/9259430/musikgedaechtnis-alzheimer]. Laut dem niederländischen Neuropsychologen Erik Scherder wird außerdem beim Hören von Musik ein spezieller Teil des Gehirns aktiviert, der in der Nähe der Motorik liegt. Der Forscher unterstützte Hester Anderiesen Le Riche, Industriedesignerin und Gründerin von Tover, bei der Entwicklung der Tovertafel.