Diversity in Health Congress 2022 Gleich ist nicht gerecht

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Warum ist Diversität für das Gesundheitswesen so fundamental? Wie kann in Forschung, Medizin und Versorgung Diskriminierung verhindert werden und warum ist Gleichbehandlung nicht ­automatisch gerecht? Antworten gab es auf dem ersten Diversity in Health Congress im März 2022.

Das Gesundheitswesen muss sich wieder stärker am Menschen orientieren. Das forderte Dr. Gertrud Demmler, Vorständin der SBK – Siemens Betriebeskrankenkasse, bei der Eröffnung des ersten Divesity in Health Congresses 2022 am 22. März. Gemeinsam mit dem WIG2 Institut und der Universtität Leipzig hat die SBK das Digitalevent ins Leben gerufen. Das Ziel, einem bisher unterbeleuchteten Thema eine Bühne zu geben, ist den Veranstaltern damit gelungen. Mehr als 300 Teilnehmende, mehr als 150 aktive Diskutanten und zehn hochkarätige Referentinnen und Referenten aus Wissenschaft und Praxis erklärten, warum Diversity im Gesundheitswesen noch mehr Beachtung braucht – von der Datenerhebung über die Künstliche Intelligenz (KI) bis in die Vorstandsebene.

KI gegen Gender-Bias

Prof. Sylvia Thun vom Berlin Institute of Health an der Charité erläuterte in ihrem Vortrag, wie Digitalisierung und KI als Enabler für mehr Gendergerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung wirken können. „Digitalisierung und damit einhergehende KI ermöglichen es, schneller und präziser zu Diagnosen zu gelangen, wir können besser prädiktieren und wir können den Behandlungsoutcome besser messen“, erklärte Thun. Möglich machen das Algorithmen. Jedoch – und hier zeigt sich im Hinblick auf Diversity und Gendergerechtigkeit erheblicher Handlungsbedarf – werden diese Algorithmen auf Basis von Daten entwickelt, die die Genderperspektive, also die Unterschiede zwischen z.B. Frauen und Männern, nicht ausreichend bzw. gar nicht abbilden. Das ist immer dann der Fall, wenn in klinischen Studien nur auf Daten von Männern zurückgegriffen wird oder werden kann. Daraus ergeben sich unterschiedliche Gefahren. Therapie und Diagnostik werden nicht ausreichend differenziert nach ihrer Wirkung abhängig vom biologischen Geschlecht erforscht. Das sorgt dafür, dass v.a. geschlechtsspezifische Krankheitsbilder wie Migräne, Endometriose, aber auch Herzinfarkt unterforscht sind.

Modell für Männergesundheit

Dass Diversität nicht nur ein „Frauending“ ist, sondern auch Männer in den Fokus stellt, machte Thomas Altgeld, Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V., deutlich. Seine These lautet: Die patriarchal organisierte Medizin kennt das soziale Geschlecht nicht. Der traditionelle Fokus allein auf das biologische Geschlecht habe zur Folge, das die subjektive Bedeutung von Gesundheit für Männer kaum beachtet wird und damit auch geschlechtstypisches Verhalten im Hinblick auf Gesundheit ignoriert wird. Die Folge: „Männergesundheit ist kein wirkliches Thema in der Gesundheitsversorgung“, erklärt Altgeld. Vor allem bei z.B. pshychischen Erkrankungen werde das deutlich. „Wir wissen viel über Biologie, aber wir wissen wenig über Sozialisationseinflüsse und kulturelle Stereotype“, mahnt Altgeld. So zeigten Männer z.B., wie männlich sie sind, indem sie ungesund leben. Diese Erkenntnis ist übrigens keine des 21. Jahrhunderts, sondern basiert auf einer Untersuchung von Herb Goldberg, erschienen 1979 unter dem Titel „Der verunsicherte Mann“. Altgeld fordert deshalb ein integriertes Modell für Männergesundheit, wie es z.B. Toni Faltermaier 2015 vorgestellt hat. Wichtig dabei: der Fokus auf die subjektive Bedeutung von Gesundheit und Krankheit.

Das Dilemma der Gleichheit

Welche Rolle das Krankheitsbild auf Diversität hat, brachte Mina Luetkens, Geschäftsführerin Patients4Digital und Aktivistin für Human Centric Healthcare, zum Ausdruck. „Krankheit wird im ersten Moment auf einer ganz individuellen Ebene wahrgenommen“, erklärt Luetkens. Dabei spielen persönliche und biologische Eigenschaften ebenso wie die soziale und individuelle Lebenssituation eine entscheidende Rolle. Durch diagnostische Verfahren und das Zuordnen zu einem klinischen Krankheitsbild geraten beim Anamneseprozess die individuellen Faktoren in den Hintergrund – eine Notwendigkeit für eine objektive und datenbasierte Befundung. Aber: Das Dilemma der Gleichheit wird dabei nicht bedacht. Denn eine gleiche Behandlung aus medizinischer Sicht ist nicht automatisch auch eine gerechte medizinische Behandlung bzw. sorgt auch nicht für eine gleiche oder gar gerechte medizinische Versorgungsqualität. Luetkens erklärt es so: „Es gibt immer Bevölkerungsgruppen, die aufgrund ihrer Lebenssituationen anders auf Behandlungen ansprechen. Das heißt, eine Intervention hat nicht die gleiche Wirksamkeit und das gleiche Outcome. Es ist sehr wichtig, sich das vor Augen zu halten, v.a. wenn es darum geht, Daten zu erheben. Der ‚Blind Spot‘ Mensch wird gerne übersehen.“ Dabei sollte bei der initialen Datenerhebung, also der Anamnese, auf Vollständigkeit geachtet werden. „Cognitive Biases sollten dabei ins Bewusstsein rücken“, erklärt Luetkens.

„Der Ruf nach mehr ‚Ungleichbehandlung‘ klingt zunächst kontraintuitiv, wenn wir über Diversity sprechen. Doch im Gesundheitswesen hat er seine Berechtigung. Für eine bestmögliche Gesundheitsversorgung ist es essenziell, maßgeschneiderte Angebote für verschiedene Geschlechts-, Alters- und Gesellschaftsgruppen zu schaffen“, resümierte J.-Prof. Dr. Dennis Häckl, Geschäftsführer am WIG2 Insitut.

Martin Blaschka, Leiter Netzwerk und Veranstaltungen am WIG2 Institut, gibt gegenüber HCM nach dem Kongress einen ersten Ausblick darauf, wie es weitergeht: „Nun gilt es, die vielen wertvollen Impulse in echte Verbesserungen zu überführen. Wir freuen uns bereits auf eine erneute Bestandsaufnahme beim 2. Diversity in Health Congress im nächsten Jahr. Dann hoffentlich auch als hybride Veranstaltung mit Präsenzanteil.“ Ein Videomitschnitt des Kongresses ist hier verfügbar: bit.ly/3IRkbJO

bianca.flachenecker@holzmann-medien.de

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    Diversity in Health Congress 2022
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    Martin Blaschka, WIG2 Institut, und Frederike Gramm, freie Journalistin, moderierten durch die Veranstaltung.