Interview mit Dr. Gerd Landsberg „Getroffene Maßnahmen sind noch nicht ausreichend“

Dass es an einer sektorenübergreifenden Versorgung mangelt, wurde zuletzt am Umgang mit Flüchtlingen und Asylsuchenden deutlich. Doch auch Aspekte wie das Entlass- und Überleitungsmanagement, Klinikeinweisungen durch Pflegeeinrichtungen oder die Betreuung von Menschen mit Demenz im Krankenhaus haben Nachholbedarf.Das Bundeskartellamt führt derzeit eine Sektorenuntersuchung unter deutschen Kliniken durch. Dabei geht es u.a. um Kooperationen zwischen Krankenhäusern, also um die gemeinsame Erlangung einer marktbeherrschenden Stellung. Aber zu den Sektoren des Gesundheitswesens zählen bedeutend mehr Ebenen: etwa Länder, Städte und Kommunen, stationäre Abteilungen der Kliniken und Pflegeeinrichtungen, ambulante Anbieter beider Bereiche, niedergelassene Ärzte und Therapeuten, Krankenkassen, Apotheken, Sanitätshäuser, dazu der öffentliche Gesundheitsdienst mit verschiedenen medizinischen Angeboten oder Beratungsstellen für die Pflege. Nicht zu vergessen der Mittelpunkt: Patienten und Bewohner. Allein diese Auflistung macht klar, wie viele Akteure zusammenspielen müssen. Doch dazu stellt das Bundesgesundheitsministerium in seinem Onlineglossar zum Stichwort „Leistungserbringer“ fest: „Die unzureichende Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Sektoren stellt eines der größten Probleme des deutschen Gesundheitswesens dar.“ Ein Thema, das deshalb an vielen Ecken mehr denn je aufflammt: Ob innerhalb der Häuser bezüglich ihrer Abteilungsstrukturen, zur übergreifenden Behandlung einzelner Krankheiten oder zur Frage, wie eine gesundheitliche Versorgung in ländlichen Gebieten gerade für ältere Menschen gewährleistet werden kann. Der siebte Altenbericht der Bundesregierung von November 2016 empfiehlt dazu: „Die Notwendigkeit einer Vernetzung der verschiedenen Akteure mit dem Ziel, eine bedarfsgerechte und wohnortnahe Versorgungsstruktur zu etablieren, die den mit dem demografischen Wandel verbundenen Herausforderungen gerecht wird, verweist auch auf die deutliche Stärkung der Kommunen: Diese sollten bei der Bedarfsplanung im ambulanten und stationären Sektor ebenso stärkere Mitbestimmungs- und Gestaltungsrechte erhalten wie bei der Entwicklung innovativer, Sektorengrenzen überwindender Strukturen.“ Einige Beispiele, bei denen bereits erfolgreich der „Blick über den Tellerrand“ praktiziert wird, stellen wir Ihnen auf den nächsten Seiten vor. Zuvor sprach HCM mit Dr. Gerd Landsberg, der als Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes (DStGB) rund um die Uhr mit Sektoren in vielen Branchen zu tun hat und weiß, wo es hapert. HCM: Herr Dr. Landsberg, wie gravierend stellt sich Ihnen das Problem der Zusammenarbeit im Gesundheitswesen dar – und mit welchen Folgen? Landsberg: Deutschland verfügt über ein leistungsfähiges Gesundheitssystem. Allerdings sind die Ärzte in unserem Land ungleich verteilt. In manchen Regionen gibt es eine Überversorgung, in einem Drittel der Planungsbereiche aber mittlerweile eine Unterversorgung, insbesondere mit Hausärzten. Betroffen sind v.a. strukturschwache ländliche Gebiete. Die bislang vom Gesetzgeber getroffenen Maßnahmen sind noch nicht ausreichend, um die bestehende und in weiteren Regionen drohende Unterversorgung zu verhindern. Gerade in ländlichen Regionen sind deshalb Gemeinschaftspraxen, Ärztehäuser oder lokale Gesundheitszentren dahingehend weiterzuentwickeln, dass Hausärzte und Fachärzte, medizinische Fachangestellte oder Arztassistenten und Pflegekräfte gemeinsam Leistungen anbieten. Dort könnten z.B. auch angestellte Ärzte aus der Stadt tageweise arbeiten. Die Gesundheitszentren könnten mit den Kliniken und Pflegeeinrichtungen gerade für die älter werdende Gesellschaft integrierte Versorgungskonzepte anbieten. Notwendig sind jedoch neue gemeinsame Finanzierungswege durch Krankenkassen, Pflegekassen, kassenärztliche Vereinigungen sowie weitere Institutionen im Gesundheitswesen. HCM: Der siebte Altenbericht appelliert u.a. „Die Sicherung einer angemessenen gesundheitlichen Versorgung für alle Bürgerinnen und Bürger gehört zu den Grundaufgaben des Staates. Damit ist ein Anspruch aller Bürgerinnen und Bürger – gleich welchen Lebensalters – angesprochen, und dieser Anspruch darf nicht Kosten-Nutzen-Erwägungen untergeordnet oder sogar geopfert werden.“ Ist das Gegenteil, gerade für ältere Menschen, also der Fall? Landsberg: Die Menschen in Deutschland haben einen Anspruch auf ein bedarfsgerechtes Versorgungsangebot medizinischer Leistungen, die bestmöglich zugänglich und erreichbar sind. Ziel muss es sein, auch zukünftig in jeder eigenständigen Gemeinde eine hausärztliche Versorgung gewährleisten zu können. Die gesundheitliche Versorgung ist wie die Kinderbetreuung eine unverzichtbare Aufgabe der Daseinsvorsorge, die gewährleistet werden muss. HCM: Ist es nicht unklug, das gesundheitliche Bedarfspotenzial gerade der älteren Klientel so wenig zu nutzen? Landsberg: Wir müssen noch viel stärker die Chancen des Alterungsprozesses deutlicher hervorheben. Noch nie gab es so viele aktive, engagierte und teilweise auch wohlhabende ältere Menschen. Sie sind oftmals bereit, sich ehrenamtlich zu engagieren und Verantwortung zu übernehmen. Es ist Aufgabe der Kommunen, den dafür notwendigen Rahmen zu schaffen. HCM: Auf Messen werden seit Jahren sinnvolle neue Hilfsmittel präsentiert, Forschungsinstitute entwickeln laufend u.a. technische Unterstützung. Wieso kommen solche Produkte im Alltag kaum an? Landsberg: Das ist in der Tat absurd. Automatische Toiletten sehe ich überwiegend auf Messen, aber kaum in Altersheimen. Auch der sogenannte Fallgürtel von Fraunhofer, der beim Hinfallen wie ein Airbag funktioniert, ist mir noch in keiner Einrichtung begegnet. Und dann gibt es Phänomene wie eine Windel-Press-Anlage, die 7.000 Euro kostet, aber nicht abgerechnet werden darf. Forschung und Wissenschaft haben in den letzten Jahren im Bereich altersgerechter Assistenzsysteme bereits einige Projekte ins Leben gerufen, erstaunlicherweise stellt sich der Markt jedoch nur sehr zögerlich auf diese stetig wachsende Zielgruppe ein. Eine Ursache liegt sicherlich darin, dass sich die Kranken- und Pflegekassen an der Finanzierung nicht ausreichend beteiligen. Eine weitere Ursache der eher kleinen Nachfrage nach altersgerechten Assistenzsystemen ist das mangelhafte und völlig dezentrale Informationsangebot über existierende technische Möglichkeiten. Ich würde mir wünschen, dass die Beratungsstelle „Alter & Technik“, eine seit Ende 2011 im Schwarzwald-Baar-Kreis installierte zentrale Anlaufstelle, über die sich Handwerker, Industrie, Vertrieb, Pflegedienstleister und Institutionen vernetzen, bundesweit Schule macht. HCM: Mangelt es dem System nur an passender Struktur oder auch an Geld? Landsberg: An beidem. Man muss sich klarmachen: Die Pflegeversicherung ist nur eine Teilkaskoversicherung. Es ist mehr Engagement notwendig, denn wir können nicht für alle Pflegeheime bauen und nur auf Profis setzen. Kommunen sollten daher nicht primär in Pflegedienste investieren, sondern in Strukturen, die Ehrenämter etwa für die Pflege ausbauen und das Zusammenspiel mit Familien und im Quartier unterstützen. Mit dem Start der Pflegeversicherung hatten sich die Kommunen bei der Planung zurückgezogen, das war falsch. Wir brauchen Leute, die sich kümmern und koordinieren, wie das u.a. zuletzt bei der Flüchtlingszuwanderung der Fall war. HCM: Wie lässt sich „eines der größten Probleme des deutschen Gesundheitswesens“ also lösen – wer muss für eine bessere sektorenübergreifende Versorgung wie agieren? Landsberg: Das Grundgesetz fordert gleichwertige Lebensbedingungen im ganzen Land. Diesen Auftrag müssen wir erfüllen. Dazu gehören eine flächendeckende ärztliche Versorgung, Mobilitätsangebote und Möglichkeiten auch der kulturellen Teilhabe in Stadt und auf dem Land für alle, also auch für alte Menschen. Das wird nur gelingen, wenn wir bereit sind, neue Wege zu gehen und die Alterung als gesamtgesellschaftliche Herausforderung begreifen. Dazu gehört: Frühzeitig die Bürger auf die Chancen der Telemedizin vorbereiten. Neue Wohnformen mit Mehrgenerationenhäusern und anderen Gemeinschaftsmodellen, wo die Kreativität und das Engagement gerade älterer Menschen in der Gemeinsamkeit mit jungen Familien genutzt werden kann, etablieren. Wohnortnahe ambulante Pflegestrukturen müssen kommunal gesteuert werden und bieten die große Chance, dass viel mehr Pflegebedürftige in ihrem Umfeld weiterleben können. Die Fragen stellte Carolina Heske.

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