Digitalisierung in der Medizin Fluch, Segen oder Hoffnung?

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Digitalisierung

Unternehmen wissen, dass sie digitalisieren sollten. Aber was genau ist damit gemeint? Wo und wie fangen sie damit an? Ein weiterer Einschätzungsversuch vom Autor des Buches „In einem Jahr digital“.

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    Ömer Atiker.
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    Das Buch „In einem Jahr digital“ gibt einen Überblick über alle Aspekte der Digitalisierung und wie Sie diese für Ihr Unternehmen nutzen können. Von den Grundlagen bis zur täglichen Praxis, gespickt mit Beispielen und in einem unnachahmlich lockeren Schreibstil.

Der Auftrag ans Gesundheitssystem lautet, unsere Mitmenschen gesund zu machen. Und zwar so gut und günstig wie es geht. Leider schließen sich gut und günstig meist gegenseitig aus. Hinzu kommt, dass Ärzte und Pflegepersonal unter hohem Druck stehen – Stress, Überstunden und Unterbesetzung zerren an den Nerven und sorgen dafür, dass sich die Mitarbeiter bald selbst ins Krankenbett legen müssen, wenn sie den Job lange genug machen. Und jetzt kommt auch noch die Digitalisierung! Doch was bedeutet das eigentlich genau? Werden Ärzte aus Fleisch und Blut bald überflüssig sein, weil „Doktor Google“ den Job übernimmt? Klar ist: Das Berufsbild wird sich stark verändern. Aber deswegen werden Menschen nicht überflüssig in der Medizin – ihre Arbeit wird durch die Digitalisierung nur erheblich leichter. Hier lohnt ein Blick über den Tellerrand: Während das Gesundheitswesen in unserem Land gerade erst in der digitalen Welt laufen lernt, sind andere Branchen bereits deutlich weiter.

Was braucht der Kunde wirklich?

Zahlreiche Unternehmen setzen bereits auf Methoden wie Design Thinking, um zu verstehen, welche Bedürfnisse ihre Kunden wirklich haben – und wie sie diese Wünsche erfüllen können. Es wird intensiv getestet, welche Lösungen eine spürbare Verbesserung darstellen. Genau diese Haltung ist auch für die Medizin lohnenswert! Denn Patienten sind auch Kunden. Ebenso wie alle anderen Akteure im Krankenwesen – Ärzte, Pflegekräfte, Betreiber von Kliniken, Krankenkassen. Auf allen Ebenen lohnt es sich herauszufinden, was genau die jeweilige Kundengruppe stört und wie man es verbessern kann.

Innovation in der Medizin scheint dagegen oft festzustecken zwischen „das haben wir schon immer so gemacht“ und wirtschaftlichen Zwängen. Für eine optimale Client Experience sind das schlechte Voraussetzungen. Viel besser sind Offenheit und eine gewisse Bescheidenheit, die Bereitschaft immer wieder neu zu lernen, was wirklich gut funktioniert. Und genau dabei geht es bei der digitalen Transformation: Die neuen Möglichkeiten zu nutzen, um mehr Wert zu schaffen.

Die Ergebnisse des aktuellen DAK-Digitalisierungsreports belegen übrigens, dass Mediziner durchaus offen für die Digitalisierung sind. Rund 80 Prozent der Befragten gaben an, dass sie Videosprechstunden und Online-Coachings für nützliche Ansätze halten. Der Wille ist da – jetzt fehlt nur noch das „Was“ und v.a. das „Wie“.

Neue Horizonte

Werfen wir einen Blick in die Wirtschaft: Im Grunde macht ein Fahrdienst wie Uber nichts anderes als die alten Taxen auch. Doch das Erlebnis ist ein völlig anderes. Auf einmal wird es leicht und bequem, in einer fremden Stadt von A nach B zu kommen. Der Unterschied liegt darin, dass Uber nicht ein Produkt anbietet, sondern eine Lösung: Alle Fragen des Kunden, wie Wartezeit, Einstiegort, Fahrtdauer, Kosten, Bezahlung werden so einfach wie möglich beantwortet. Wer viel reist weiß, dass das weit entfernt ist von den „Freuden“ einer Fahrt im Taxi. Erfolgreiche Unternehmen verändern, was sie tun. Sie machen nicht nur besser, was sie schon seit Jahren tun. Sie kombinieren Dienste und Produkte zu kompletten Lösungen. Und manchmal machen sie einen großen Schritt. Oder hätten Sie gedacht, dass ein Buchhändler einmal Fernsehserien produziert? Oder eine Computerfirma die Musikbranche komplett verändert? Amazon und Apple haben genau das getan. Trauen auch Sie sich, weiter zu denken als bis an die Kante des eigenen Schreibtischs!

Die Summe vieler Vorteile

Bereits jetzt wirft die digitale Zukunft für die Medizin ihren Schatten voraus. Ärzte werden durch Roboter nicht ersetzt, sondern unterstützt. Die Diagnostik wird präzisiert und Mediziner haben mehr Zeit für das Wesentliche: ihre Patienten. Dank künstlicher Intelligenz werden Computer immer mehr Verwaltungsaufgaben übernehmen. Bereits jetzt können Rechner Röntgenbilder miteinander vergleichen und in der Datenbank nach Präzedenzfällen suchen – viel schneller als ein Arzt, der sich durch Berge von Forschungsmaterial arbeiten muss. Mit wenigen Klicks sind passende Studien und effektive Behandlungsansätze direkt verfügbar. Oder denken Sie die Möglichkeiten, die 3D-Drucker bereits heute in Form von passgenauen Implantaten bieten. Auch die Zukunft der Prothetik ist vielversprechend: Gelähmte Menschen können wieder laufen, Dinge mit ihren Gedanken steuern und wieder am Alltag teilnehmen.

Tragen Sie auch einen Fitnesstracker? Ich frage mich, wieso diese kleinen Helfer nicht bereits flächendeckend in Krankenhäusern eingesetzt werden. Daten wie Puls, Bewegung, Temperatur und bald auch Zuckerwerte etc. können so laufend erfasst und schnell per Computer ausgelesen werden. Ohne dass der Patient einen zeitintensiven Check-up durchlaufen muss, bei dem jeder Wert mit unterschiedlichen Tools ermittelt wird. Das spart nicht nur Ressourcen bei Patient und Personal, sondern wirkt sich auf die gesamte Struktur einer Praxis oder Notaufnahme aus: Das Wartezimmer leert sich, weil besser geplant und deutlich weniger vor Ort passieren muss! Kurzum: Die Technik ermöglicht es dem Arzt, wieder mehr Arzt zu sein und weniger medizinischer Verwalter.

Erleichterung für Mitarbeiter wie Patienten

Im Pflegebereich bringt die Digitalisierung enorme Hilfen mit sich, die die Mitarbeiter auch körperlich entlasten: Es gibt inzwischen spezielle Hemden, die die Vitalwerte der Mitarbeiter messen und bei falscher Körperhaltung oder drohender Überbelastung entsprechende Warnsignale abgeben. Klingt futuristisch, ist aber sehr effektiv! Pflegeroboter werden in Forschungseinrichtungen, Krankenhäusern und Pflegeheimen erprobt. Kennen Sie „Robear“? Er sieht aus wie ein freundlicher Bär, arbeitet im Tandem mit Pflegern und assistiert beim Tragen, Umbetten und Aufrichten von Patienten. Andere Roboter übernehmen die Anleitung der Krankengymnastik oder beruhigen, wie Robbe Paro, Alzheimer-Patienten und helfen ihnen, Stress abzubauen. Natürlich tauchen an dieser Stelle etische Fragen auf. Erste Studien belegen jedoch, dass der Einsatz von Robotern von Patienten sogar willkommen geheißen wird, weil sie sich vor einer Maschine nicht schämen müssen. Es geht nicht um den Ersatz von menschlicher Zuwendung. Aber wir haben als Menschen nur begrenzte körperliche Kraft und wenig Zeit für viele Patienten. Kluge Technik kann uns helfen, diese Lücke zum Wohle aller zu schließen.

Auch für die Patienten liegen die Vorteile auf der Hand. Gerade wurde auf dem Deutschen Ärztetag das Fernbehandlungsverbot gekippt – aus meiner Sicht ein echter Meilenstein. Statt ewig im Wartezimmer zu sitzen und später kränker als vorher zu sein, können Routinen wie Rezeptausstellungen schnell und entspannt per Videochat erledigt werden. Im Ausland funktioniert das bereits ohne Probleme, während sich das deutsche Gesundheitswesen noch an Papier und die „heiligen“ Unterschriften klammert. Es ist einfach nicht mehr zeitgemäß, sich einen halben Tag freinehmen zu müssen, bloß um ein Rezept und seine Tabletten zu bekommen! In ländlichen Regionen kann die Fernbehandlung zudem der dramatischen Unterversorgung entgegenwirken.

In Summe nimmt uns der technologische Fortschritt bereits in vielen Bereichen Dinge ab, die monoton oder belastend sind. Digitalisierung bedeutet gerade in der Medizin nicht, dass Ärzte und Mitarbeiter zu effizienten Maschinen mutieren, sondern dass wir dumme und repetitive Tätigkeiten Maschinen überlassen. Denn erfreulicherweise sind die Maschinen auf dem Weg, „menschliche“ Eigenschaften zu entwickeln – so dass sie zu einer „Verlängerung“ unseres eigenen Körpers und einem Teil unseres beruflichen wie privaten Alltags werden können.

Über den Autor:
Ömer Atiker hat Wirtschaftsingenieurwesen studiert. Seine Keynotes und Vorträge sollen aufzeigen, was die Digitalisierung für Unternehmen und Menschen bedeutet. Als Berater hilft er Firmen bei der digitalen Transformation. Mit seiner Agentur Click Effect macht er außerdem seit über zehn Jahren digitales Marketing für mittelgroße und große Unternehmen. www.atiker.com