Digitalisierung und Medizintechnik
Um Mikroskopie für Analytik und Qualitätskontrollen im Labor zu automatisieren, sind eine schnelle Digitalisierung der Proben und eine parallele Bildauswertung erforderlich. Wie dies mit modernen High-Speed-Mikroskopen mit hoher Aufnahmegeschwindigkeit und intelligenter Software gelingt.
Insbesondere bei der Herstellung von Arzneimitteln für neuartige Therapien liefert die High-Speed-Mikroskopie einen großen Mehrwert.
Advanced Therapy Medicinal Products (ATMP) umfassen Arzneimittel für die Zell- und Gentherapie sowie Tissue-Engineering-Erzeugnisse, die neue Therapien für bislang unheilbare Krankheiten ermöglichen. Der Markt um diese Produkte befindet sich im steilen Wachstum (Globe Newswire, 2021). Pharmakonzerne tätigen Investionen in Milliardenhöhe, um ihre Kapazitäten im Bereich der Zell- und Gentherapie auszubauen. Im Zuge dieses Wandels wird deutlich, dass auch ATMP immer stärker an Bedeutung gewinnen. Problematisch ist, dass derartige Produkte aktuell noch mehrere Hunderttausende Euro kosten und nur wenigen Patienten verfügbar gemacht werden können. Die hohen Kosten für diese Therapeutika sind zumeist durch die aufwendige Herstellung und hohe Ausschussraten von circa zehn Prozent bedingt. Daher ist das Bestreben der Industrie groß, die ATMP-Produktionsprozesse zu automatisieren und zu verbessern. Eine wichtige Voraussetzung dafür sind effiziente Screeningverfahren, die vollständige Qualitätskontrollen im Hochdurchsatz ermöglichen.
Die Mikroskopie ist eines der wichtigsten nicht invasiven Verfahren, mit dem sich qualitative Aussagen über den Zustand von Zellen treffen lassen. Bei der Herstellung zahlreicher zellbasierter Produkte reichen jedoch einfache Stichprobenmessungen nicht mehr aus, sodass großflächig ganze Multiwell-Platten hinsichtlich mikroskopischer Details untersucht werden müssen. Auch in Laboren, in denen im Hochdurchsatz Proben analysiert werden müssen, ist die Mikroskopie oft der begrenzende Faktor. Bei der Beschleunigung und Automatisierung dieser Prozesse stoßen einfache Mikroskope schnell an Grenzen: Bei manuellen Mikroskopen muss für jede einzelne Aufnahme der Probentisch neu positioniert und fokussiert werden. Auf dem Markt verfügbare automatisierbare Mikroskope können diese Prozesse im Stop-and-go-Betrieb bereits teilweise automatisch ausführen. Dennoch dauert der Aufnahmeprozess lange und die Auswertung wird meistens manuell durchgeführt, was leicht zu einer hohen Fehlerrate führt. Um dieser Problematik entgegenzuwirken, wurde die High-Speed-Mikroskopie entwickelt.

Mit neuen High-Speed-Mikroskopen lassen sich große Flächen wie beispielsweise ganze Multiwell-Platten in hoher Auflösung in Rekordzeit digitalisieren: Dazu scannt das High-Speed-Mikroskop die Probe in der Bewegung und erzielt auf diese Weise einen deutlichen Geschwindigkeitsvorteil. Der Aufbau des Mikroskops umfasst
- ein Hardware-Autofokus-System,
- eine Hochgeschwindigkeitskamera,
- eine Kurzpulsbelichtung,
- hochpräzise Achsen für die Positionierung sowie
- entsprechende Kontroller für die synchrone Ansteuerung.
Als Basis können herkömmliche Mikroskope etablierter Hersteller verwendet werden. Sind entsprechende Schnittstellen vorhanden, lassen diese sich zu High-Speed-Mikroskopen aufrüsten, sodass auch vorhandene Objektive weiterverwendet und Kosten eingespart werden können.
Im Vergleich zu herkömmlichen automatisierten Mikroskopen scannen aktuelle High-Speed-Mikroskope Proben bis zu 32-mal schneller.
Automatisierung der Bildverarbeitung
Jedoch nicht nur die Geschwindigkeit der Aufnahme ist entscheidend, sondern auch ihre Qualität: Die aufgenommenen Rohdaten sind je nach Probe und Mikroskopiemodus mal mehr und mal weniger gut verwendbar. Oft ist eine Bearbeitung der aufgenommenen Bilder sinnvoll. Damit der gewonnene Geschwindigkeitsvorteil des High-Speed-Mikroskops an dieser Stelle nicht verloren geht, muss diese Datenverarbeitung in mindestens genauso hoher Geschwindigkeit ablaufen. Intelligente Algorithmen und GPU-Unterstützung sind daher ein wichtiger Bestandteil der Bildvorverarbeitung zur Schattierungskorrektur. Bei der Aufnahme der einzelnen Bilder entstehen an den Rändern aufgrund inhomogener Beleuchtung schnell Vignetteneffekte. Um diese zu kompensieren wird Pixel für Pixel, je nach Intensität und Position im Bild, ein Korrekturwert errechnet, der es ermöglicht, den Störeffekt vollständig zu entfernen.
Das Mikroskop nimmt je nach Probengröße und Objektiv tausende Einzelbilder auf, die jeweils nur ein kleines Sichtfeld abdecken. Da jedoch ein großes, zusammenhängendes Bild gewünscht ist, werden die Einzelbilder mit einem Stitching-Algorithmus übergangsfrei zusammengefügt. Auf diese Weise entsteht ein einzelnes, extrem hochaufgelöstes Bild. Zusätzlich wird, abhängig vom Anwendungsfall, der Kontrast des Bildes durch eine sogenannte Histogramm-Normalisierung erhöht.
Intelligente Auswertungen für hohe Effizienz
Inzwischen sind nicht nur Standardanalysen möglich, wie z.B. das Zählen von Zellkolonien in einer Zellkultur, sondern auch komplexere Auswertungen, wie die Bestimmung der Viabilität oder der Zelldifferenzierung. Durch die Integration von KI-Software können beispielsweise Zellkolonien identifiziert und anhand von Parametern wie Größe, Lage, Reinheit, Umfang und Rundheit bewertet werden. Die Software soll dann anhand der ermittelten Parameter automatisch vorgeben, wie der Zellkulturprozess verändert oder weitergeführt werden muss.
Das Forschungsteam des Fraunhofer IPT konnte bereits nachweisen, dass ein Deep-Learning-Modell bei der Klassifizierung von Zellkultur-Bildern akkuratere Ergebnisse liefere als erfahrenes Fachpersonal, das die Klassifizierung manuell durchführe (Piotrowski, 2021). Zusammen mit dem Geschwindigkeitsvorteil der automatisierten Auswertung sei die Überlegenheit des Systems hinsichtlich Effizienz und Qualität deutlich. Das am Fraunhofer IPT entwickelte KI-Analyse-Tool „AIxCell“ ermöglicht dem biologischen Fachpersonal spielend einfach die Erstellung eigener KI-basierter Auswertungsprogramme, um automatisch relevante Daten aus den individuellen Probenbildern zu extrahieren (Leyendecker, 2021). Mit fortschreitender Automatisierung und Digitalisierung der biologischen Produktion und in der Laboratoriumsmedizin können solche Systeme dem biologischen Fachpersonal zukünftig deutlich mehr Routinearbeiten abnehmen. Produktivität und Prozesssicherheit lassen sich somit durch die Kombination von High-Speed-Mikroskopie und Auswertung durch künstliche Intelligenz deutlich steigern.

Literatur
- Globe Newswire (17.10.2021) Gene Therapy Accounts For A Major Portion Of The Cell And Gene Therapy Market And It Is Expected To Have The Most Growth. https://www.globenewswire.com/news-release/2021/02/23/2180767/0/en/Gene-Therapy-Accounts-For-A-Major-Portion-Of-The-Cell-And-Gene-Therapy-Market-And-It-Is-Expected-To-Have-The-Most-Growth.html.
- Piotrowski T. et al. (2021) Deep-learning-based multi-class segmentation for automated, non-invasive routine assessment of human pluripotent stem cell culture status. Computers in biology and medicine, 129, 104172.
- Leyendecker L. (17.10.2022) AIxCell – Deep Learning Cell Culture Analysis Tool. https://www.ipt.fraunhofer.de/de/projekte/aixcell.html.
Chancen für die Anwendung eines High-Speed-Mikroskops
Bislang konnte sich die High-Speed-Mikroskopie bereits in verschiedenen Anwendungsfeldern als sinnvolles Werkzeug für die Bilderfassung und -verarbeitung erweisen: Nicht nur rein biologische Anwendungen, sondern auch Qualitätskontrollen bei der Produktion von Mikroelektronik oder anderer mikroskopisch kleiner Bauteile, beispielsweise bei Schwingquarzen für Uhren, haben bereits das Potenzial des Verfahrens gezeigt. Ein besonders großes Anwendungsgebiet findet sich jedoch in den Lebenswissenschaften, in der Produktion großer Pharmaunternehmen oder in medizinischen Laboren für die Analytik im Hochdurchsatz.
In der StemCellFactory in Bonn kommt solch ein High-Speed-Mikroskop bereits zum Einsatz: Die StemCellFactory ist eine vollautomatisierte Anlage, in der iPS-Zellmodelle zur Entwicklung von Therapeutika für neuropsychiatrische Erkrankungen produziert werden. Aufgrund der Erfordernisse von 100-Prozent-Qualitätskontrollen und hohem Durchsatz nutzen die Anwender dort ein High-Speed-Mikroskop zur automatisierten Überwachung der Zellkultur.
Ein weiteres ATMP-Forschungsprojekt, in dem die High-Speed-Mikroskopie in einem internationalen Konsortium erprobt wird, beschäftigt sich mit der Herstellung funktioneller Gelenkimplantate zur Behandlung von Osteoarthritis: Die Partner im JointPromise-Projekt errichten zu diesem Zweck eine Anlage, in der mittels Tissue Engineering große Mengen an mesenchymalen Stammzellen (MSC) produziert werden sollen. Um während der Zellkultivierung Anzeichen von Mutationen frühzeitig aufzudecken, nutzt das Team zur Überwachung des Zellwachstums ein High-Speed-Mikroskop und eine abgestimmte Auswertungssoftware. So lässt sich verhindern, dass im Fall einer klinischen Anwendung Krebszellen implantiert werden. Um dies mit hoher Gewissheit auszuschließen, führt das Forschungsteam mit einem High-Speed-Mikroskop im Hochdurchsatz regelmäßige 100-Prozent-Qualitätskontrollen durch.
Die Einsatzmöglichkeiten von High-Speed-Mikroskopen sind vielseitig. Je nach Anwendungsfall muss jedoch individuell entschieden werden, ob eine Integration in den Labor- oder Fertigungsprozess sinnvoll ist und den gewünschten finanziellen Mehrwert liefert. Dies kann z.B. der Fall sein, indem der Aufnahmeprozess stark beschleunigt wird. Dann findet zwar die Beladung mit Proben weiterhin manuell statt, aber diese können in kurzer Zeit zu 100 Prozent digitalisiert und vorverarbeitet werden. Zudem können sogenannte „Regions of Interest“ automatisch markiert werden, sodass die manuelle Endauswertung durch das Fachpersonal deutlich einfacher und schneller erfolgen kann. Die High-Speed-Mikroskopie ist nach Erfahrungen des Fraunhofer IPT v.a. für Analytiklabore mit einem hohen Probendurchsatz und in vollautomatisierten Workflows interessant.
Bei letzterem ist die Nutzung eines High-Speed-Mikroskops besonders vorteilig, wie es bereits in den Anwendungen zur ATMP-Produktion gezeigt wurde. Dann werden sowohl die Beladung und die Messung als auch die Auswertung und die Adaption des Prozesses vollkommen automatisch ausgeführt und der Mensch steht nicht mehr in Interaktion mit dem Mikroskop. Bei solchen Workflows ist der Nutzen der Technologie am größten. Allerdings ist auch hier abzuwägen, wie hoch der Durchsatz des Mikroskops in der Produktionsanlage sein wird, ob dieser ein Bottle-Neck für den Prozess ist und wie zeitkritisch die Proben prozessiert werden müssen. Erfordern diese Abwägungen keine erhöhte Geschwindigkeit, wie sie ein High-Speed-Mikroskop bietet, reichen möglicherweise schon einfachere Mikroskopiesysteme aus.
Die Autoren
Kai Janning M.Sc., Bastian Nießing M.Sc., Dipl.-Phys. Niels König, Prof. Dr.-Ing. Robert H. Schmitt, Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT, Kontakt: kai.janning@ipt.fraunhofer.de
Smarte Medizintechnik
Prof. Dr. David Matusiewicz befasst sich in seinem aktuellen Kommentar in HCM 7/2022 mit der Medizintechnik. Die medizintechnischen Innovationen kosten auf der einen Seite viel Geld – smarte Medizintechnik bedeute aber auch, dass es künftig gute technische Lösungen zu einem Bruchteil der Kosten geben wird.
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