Eine Begriffseinordnung Digitalität als Haltung

Die reine Technisierung hilft dem digitalen Fortschritt im Gesundheitswesen nicht weiter. Viel zu oft ist sie derzeit im Begriff zu scheitern. Der Erfolg der digitalen Veränderung braucht ein tieferes Verständnis von dem, was digitale Tools leisten können – und ein neues Mindset. Eine Einordnung. Der nächste Schritt nach Digitalisierung: Digitalität. Die Dialektik des Digitalen erfasst das Gesundheitsgeschehen. Das darf ernsthaft behauptet werden. Wir gelangen jetzt an einen Punkt, an dem die pseudo-digitale Elektrifizierung als Irrtum erkannt wird. Die Digitalisierung unserer gesundheitsbezogenen Lebenswirklichkeiten hat gerade erst begonnen. Währenddessen scheitern gut gemeinte Digitalisierungsbemühungen im Gesundheitswesen der Reihe nach. Die gerade vorgestellte Digitalisierungsstrategie des Bundesgesundheitsministeriums ist Zeugnis, dem Scheitern ein Ende setzen zu wollen. Sicher zu sein scheint: Der Diskurs in sich verändernden Gesundheitsmärkten und seine nachweislich nicht belastbare Deliberation hin zu einer neuen Gesundheitskultur bekommt Probleme aus Richtung der toxischen Ideologien des Silicon Valley. Dabei handelt es sich um global ausgespielte Denkmodelle und Kulturangebote, die man gelegentlich mit „Californication“ zusammenfasst und die längst das private Gesundheitsgeschehen erfasst haben. Eine bittere Erkenntnis Mahnen und Wehklagen helfen jetzt nicht mehr und überwinden sich ab dieser Phase selbst. Wenn es um wichtige Weichenstellungen geht, Gesundheit als datengestütztes Projekt neu zu verstehen, wird das Gesundheitswesen den Kampf um Partikularinteressen und seine Versunkenheit in der Selbstbeschäftigung aufgeben. Das Gesundheitswesen wird einsehen, dass die Kollision zwischen dem Wunsch nach stärkerer Vernetzung der gewohnten Strukturen und jenen Beharrungskräften, die eine tradierte Komplexität des Gesundheitswesens bewahren möchten, destruktiv ist. Es gibt keine Gesundheitskultur unter Ausschluss des Digitalen. Ab jetzt vollzieht sich das, was Hegel mit Aufheben meinte. Gesundheit passiert Das Gesundheitsgeschehen umfasst mehr, als das Gesundheitssystem je sein wird. Die Vereinnahmung unserer Lebenswelten durch die Medizin und ihrer Systeme zeigt sich seit der Zeit des aufgeklärten Absolutismus, als Macht sein Interesse am Wohl des Volkes entdeckte. Jetzt, da wir mit anachronistischen Strukturen an ein logisches Ende gelangen, kommt Erneuerung als Antithese aus Richtung Kalifornien. Mit dem Privileg, nicht selbst Akteur im System werden zu müssen. Dabei gibt es für die Gesundheitsakteure selbst keinen exklusiven Blick von außen auf das Gesundheitsgeschehen. Nicht einmal auf das Gesundheitswesen. Keine Perspektive, die alle Fehler des Systems zutage fördern würde, um die man sich graduell kümmern könnte. Das wird niemand ernsthaft bestreiten. Das System ist in seinen gewachsenen Strukturen der dezentralen Neuorganisation durch das Digitale ausgeliefert; wenn auch nicht hilflos. Was kommt, ist Teil einer neuen Aufklärung. Galt bislang, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, gilt jetzt, im ständigen Bewusstsein zu handeln, welche langfristigen Folgen so manche Entscheidung hat. Das betrifft auch politische Beschlüsse, die eine Branche mehrere Jahre beschäftigen. Dabei dürfen Irrtümer und Widersprüche scharf benannt werden, um sie dann gemeinsam und diskursiv aus der Welt zu schaffen. Dem alles auf sich vereinnahmenden Apparat, den wir in den vergangenen 100 Jahren weitestgehend rund um Anlässe zur Kompensation von Krankheiten arrangiert haben, wird sich jetzt in einem Akt der datengestützten Selbstbestimmung überwinden. So viel ist klar. Die Frage ist, ob der Staat erneut eine Frist gibt oder selbst anerkennt, dass neue Zeiten angebrochen sind und ein weiteres Zögern sich verbietet. Denn die Akteure sind in ihrer Selbstbestimmung nicht so frei, wie sie manchmal glauben. Mehr als 90 Prozent des Gesundheitsgeschehens hat mit dem Gesundheitswesen nichts zu tun. Der Monolith Gesundheitswesen wird in Teilen heute schon fremdgesteuert, abgetragen und dezentralisiert. Der Dreiklang des Digitalen Die Dialektik des Digitalen beginnt dort, wo man dem Narrativ folgt, Digitalisierung vereinfache die Dinge. Das Gegenteil ist der Fall. Drei Begriffe prägen dabei aktuelles Geschehen: Digitalisierung, Digitalismus und Digitalität. Wie diese im Gesundheitswesen zu begreifen sind, erklärt die Darstellung in der Infobox. Digitalisierung, Digitalismus, Digitalität Digitalisierung: Digitalisierung muss als ewige Tugend und Schlüsselaktivität begriffen werden. Sie geht nicht mehr weg. Digitalisierung ist jenes Vorhaben, neue Codes zu verfassen, wie Gesundheit besser gelingen kann. Denkmodelle und Technologien ebnen eine neue Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine unter stärkerer Mitbestimmung der Patientinnen und Patienten auf einem neuen Niveau. Digitalisierung ist in sich ein Prozess des Werdens und kein anzustrebender Fall im Future II. Mit einer sich längst herumgesprochenen Binse ist Digitalisierung ganz sicher kein rein technologisches Vorhaben. Das Digitale umgibt uns jetzt schon in einer Art und Weise, dass sich die Frage aufdrängt: Was ist der Mensch, wenn er das Digitale nicht mehr negiert. Das Smartphone als neuer Aktant im sozialen Miteinander ist dafür ein anschauliches Beispiel. Digitalismus: Unter Digitalismus kann ein naiver Solutionismus verstanden werden. Alles mithilfe von Daten lösen zu wollen, ist der Imperativ unserer Zeit und Ergebnis eines mit der Industrialisierung aufkommenden Szientismus, der die Mathematik vor den Menschen stellt. Das führt zu seltsamen Entwicklungen. Der Überwachungskapitalismus in westlichen Konsumgesellschaften steht dabei auf einer Stufe mit den chinesischen Social-Scoring-Modellen. Eine bewusste Entwicklung des Digitalen ist ratsam und birgt, adaptiv vor jede Erfahrung gestellt, immer die Gefahr, dass wir im Gesundheitswesen Leben infrage stellen könnten. Deshalb in der Elektrifizierung stecken zu bleiben, ist nicht einmal eine Antithese zur Digitalisierung, sondern einfach nur ungenügend. Gleichwohl müssen wir uns vor instrumenteller Vernunft schützen, wenn Menschen aktuell der Fantasie erliegen, ChatGPT könnte zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden. Das erinnert uns erneut an die Frage: Was ist der Mensch? Digitalität: Unter Digitalität soll hier Haltung und Hingabe verstanden werden, die nötige Demut und Bewunderung gegenüber einer sich mutmaßlich unendlich entwickelnden Komplexität aufzubringen. Mit der Akzeptanz, ihr gelegentlich näherzukommen, ohne sie je zu erreichen, muss die Kehre hin zum Digitalen (nicht nur) im Gesundheitswesen mutig und entschlossen vollzogen werden. Digitalität als Synthese setzt voraus, das Digitale als dialektischen Prozess zu verstehen. Digitalismus ist gut gemeinte Digitalisierung, aber wichtig, um aus Fehlern zu lernen. Anstatt die Irrtümer jedoch zu pflegen, braucht es weder durch erlernte Hilflosigkeit provozierte, dilettantische Apathie noch billigen Optimismus als Ergebnis systemischer Egomanie unter Gesundheitsakteuren. Kontakt zum Autor: Frank Stratmann, Mentor und Consultant, Kurator im Digitalwerk der AOK Baden-Württemberg, frank@betablogr.de

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