Digitalisierung
Digitalisierung in Kombination mit Erkenntnissen aus der Motivationspsychologie kann ein wichtiges Werkzeug sein, um die immensen Kosten, die durch chronische Erkrankungen im Gesundheitswesen anfallen, systematisch zu reduzieren. Das geschieht, indem analoge Präventionsmodelle an digitale Möglichkeiten angepasst und so Verhaltensmuster langfristig positiv beeinflusst werden.

In Deutschland leiden 58,3 Prozent aller Frauen und 55,3 Prozent aller Männer ab 65 Jahren unter chronischen Erkrankungen. Dadurch entstehen hohe Kosten für das Gesundheitssystem (Güthlin et al., 2020). Europaweit geht man von einem Betrag von bis zu 700 Milliarden Euro aus, der für die Behandlung chronischer Erkrankungen ausgegeben werden muss. Das entspricht in etwa 70 bis 80 Prozent der Gesamtkosten des europäischen Gesundheitswesens. Chronische Erkrankungen sind verantwortlich für 86 Prozent aller Todesfälle in der EU (Seychell, 2016). Spitzenreiter sind hierbei kardiovaskuläre Erkrankungen.
Prävention: Angebot ohne Abnehmer
Eine Antwort der deutschen Kassen auf diese Herausforderung ist ein wachsender Fokus auf Prävention und Gesundheitsförderung. Kosten sollen vermieden werden, indem Versicherte die Ursachen für den hohen Anteil chronischer Erkrankungen und deren Folgen adressieren. Dabei handelt es sich einerseits um fehlendes Wissen bezüglich gesundheitsrelevanter Themen, andererseits um ungesunde Verhaltensweisen im Alltag. Dieser Präventionsansatz steht exemplarisch für den Paradigmenwechsel von „Krankheitsbekämpfung“ hin zu „Gesundheitsförderung“ im deutschen Gesundheitssystem.
Allerdings bergen präventive Ansätze Schwierigkeiten. Die größte Herausforderung ist, die relevante Problemgruppe direkt und zum richtigen Zeitpunkt zu erreichen. Passgenaue Angebote müssen zu einem Zeitpunkt bereitgestellt werden, in dem die Betroffenen noch keinen Leidensdruck verspüren, aber durch ihre Lebensweise die Entwicklung chronischer Erkrankungen bereits stark begünstigen. Zielgruppe sind also Menschen, die zum Zeitpunkt der Intervention physisch wie psychisch gesund sind. Bestehende Präventionsprogramme richten sich zwar inhaltlich an die Gruppe der sogennanten Absichtslosen, sie werden aber aufgrund des Mangels motivationaler Faktoren (z.B. Schmerzen, Einschränkungen, Interesse, Relevanz für die eigene Gesundheit, etc.) häufig nicht von dieser Gruppe wahr- und angenommen. Es besteht aufgrund der Selbstwahrnehmung, gesund zu sein schlicht keine Absicht, an einer Verhaltensänderung zu arbeiten.
Fitness-Apps für die Fitten sind keine Lösung
Auch konventionelle Fitness-Apps sind daher nicht geeignet, um die Gruppe der Absichtslosen anzusprechen und zu langfristigen Verhaltensveränderungen zu motivieren. Sie sind zwar aufgrund der digitalen Verfügbarkeit leichter abzurufen und reduzieren somit Eintrittsbarrieren, sie setzen aber fast immer intrinsische Motivation, den grundsätzlichen Willen zur Verhaltensänderung, und einen breiten Wissensschatz in den Bereichen Gesundheit, Bewegung und Ernährung voraus. Die Zielgruppe, die durch Präventionsmaßnahmen erreicht werden soll, besteht nicht aus Selbstoptimierern, die bereits gesund leben und diesen Lebensstil mit Hilfe einer der zahlreichen Fitness-Apps weiter ausbauen wollen. Sie besteht aus Menschen, die sich nicht bewusst darüber sind, dass sie ihr Verhalten anpassen müssten, die auch nicht wissen, wie sie es anpassen könnten, und für die es keine App gibt, die sie dabei unterstützen könnte.
Digitale Prävention mit dem Personal Health Coach
Diese Lücke zu füllen, ist das Ziel des Personal Health Coach (PHC). Entwickelt in Kooperation mit der AOK Baden-Württemberg soll die PHC-App analoge Präventionsprogramme unterstützen. Für Menschen, die durch bestehende Präventionsangebote bisher nicht erreicht werden konnten, bietet die PHC-App mit ihrem motivationalen Ansatz ein niedrigschwelliges Angebot zur nachhaltigen Verhaltensveränderung. Grundlegend für das PHC-Prinzip sind drei Aspekte:
- Die digitale Operationalisierung motivationspsychologischer Modelle.
- Ein tiefgreifendes Verständnis für die Eigenschaften der Zielgruppe.
- Die Einbettung der Erkenntnisse über zielgruppenspezifische Eigenschaften in das psychologische Modell.
Präventionsmotivation für Unmotivierte
Zentral bei der Entwicklung des PHC war die Frage der Motivation: Wie motiviert man Menschen, sich mit ihrer eigenen Gesundheit zu befassen, auch wenn anscheinend kein Interesse an einer Veränderung besteht? In Zusammenarbeit mit Experten auf dem Gebiet der Motivationspsychologie wurden Konzepte und Theorien aus dem Bereich systematisch kategorisiert und für die digitale Anwendung operationalisiert, um diese Frage zu adressieren. Zwei Ansätze stehen in der PHC-App im Vordergrund. Maßgeblich für die Struktur der Übungseinheiten in der App ist das transtheoretische Modell (Prochaska et al., 2015), das verschiedene Phasen der Verhaltensadaption und der entsprechenden motivationalen Faktoren klassifiziert. Neben dem transtheoretischen Modell ist das sog. WOOP (Wish, Objective, Obstacle, Plan) Modell (Oettingen et al., 2015) essenzielle Grundlage für zentrale Features der App.
Individualisiertes Coaching: Persona-basierte Modelle & Machine Learning
Motivationspsychologische Modelle und eine auf prototypischen Personas basierende Interaktion mit Usern ermöglichen es der PHC-App, schon in einem sehr frühen Stadium der Nutzung individualisierte Präventionsprogramme anzubieten. Zu diesem Zweck ist das motivationale Rahmenmodell ebenfalls auf die unterschiedlichen Eigenschaften der prominentesten Personas angepasst. So gibt es für verschiedene Nutzertypen unterschiedliche Ausprägungen der motivationalen Elemente, um deren Lebensrealitäten maximal zu entsprechen und so Verhaltensänderungen unter individuellen Umständen zu ermöglichen. Basierend auf einer initialen Selbsteinschätzung der Nutzerinnen und Nutzer und optionalen Selbsttests in den drei Bereichen Bewegung, Entspannung und Ernährung, können diese daher bereits relativ präzise einem der Persona-Archetypen zugeordnet und in Folge dem entsprechenden Nutzungspfad zugewiesen werden. Hierbei wird den Usern ebenfalls ihr digitaler Gesundheitscoach zugewiesen, der Trainer, Ansprechpartner, Erklärer und Motivator in einem ist. Auch die Coaches sind so konfiguriert, dass sie den Charakteristika und Eigenschaften der Personas bestmöglich entsprechen. Der signifikante Vorteil dieser Herangehensweise ist der hohe Grad der Individualisierung und Personalisierung von Präventionsprogrammen, ohne dass große Mengen an Nutzerdaten benötigt werden. Dieser Ansatz ermöglicht es also, die Ansprache durch den digitalen Coach (z.B. vehement & auffordernd oder vorsichtig & verständnisvoll), die zur Verfügung gestellten Informationen, die Komplexität der Pläne und die Unterstützung bei der Zielsetzung schon früh an echte User anzupassen.
Natürlich stellen Personas letzten Endes nur einen Richtwert dar und entsprechen nicht hundertprozentig den tatsächlichen Eigenschaften der Nutzenden. Die bei der kontinuierlichen Nutzung der PHC-App anfallenden Daten können daher im weiteren Nutzungsverlauf dazu verwendet werden, immer hochauflösendere Modelle für das Coaching der Nutzenden zu generieren. Grundlage hierfür ist ein experimenteller Reinforcement Learning Algorithmus, der auf Basis der Interaktionen mit der App das vordefinierte Modell kontinuierlich an individuelles Nutzerverhalten anpasst. Zum einen können so die initialen Persona-Modelle ständig verbessert und die Nutzungserfahrung neuer Nutzenden optimiert werden. Zum anderen können PHC-User, die die App schon länger gebrauchen, so noch gezielter dabei unterstützt werden, gesunde Gewohnheiten in ihren Alltag zu integrieren.
Ein Modell für die Zukunft: Prävention speziell für Pflegekräfte
Neben einer Anwendung im Bereich der Gesundheitsprävention kann das PHC-Prinzip in zahlreichen anderen Domänen eingesetzt werden. Die PHC-App kann mit Hilfe der oben beschriebenen Herangehensweise beliebig angepasst und erweitert werden. Beispielsweise in Berufen mit hoher körperlicher oder psychischer Belastung ist es daher denkbar, dass der PHC dabei unterstützen kann, die Wahrscheinlichkeit für die Ausprägung langfristiger Erkrankungen zu reduzieren. Gerade im Bereich der Kranken- und Altenpflege steht das Pflegepersonal unter hoher Belastung und kann häufig trotz sehr guter Ausbildung in gesundheitsrelevanten Bereichen dieses Wissen, insbesondere auf Grund der Arbeitssituation in vielen Einrichtungen nicht auf sich selbst anwenden. Zusammen mit der AOK Baden-Württemberg arbeitet Cognostics daher bereits an einer Version des PHC für die Pflege. Der PHC-Pflege setzt einen klaren Fokus auf die Unterstützung von Pflegekräften bei der Bewältigung von Stresssituationen und hoher Belastung. Neben der reinen Prävention von Erkrankungen, kann der PHC beispielsweise aber auch in der Therapiebegleitung eingesetzt werden.
Am Beispiel des PHC-Modells zeigen Cognostics und die AOK Baden-Württemberg Lösungsansätze, wie eine gelungene Digitalisierung im Gesundheitssystem aussehen kann. KI-gestützte, digitale Angebote helfen nicht nur, die vielen strukturellen Probleme wie Kostendruck und Ressourcenknappheit zu lösen, sie können als Ergänzung zum Vor-Ort Angebot auch nachhaltig die Lebensqualität für Betroffene verbessern.
Kontakt zum Autor
Andrej Nikonov, Geschäftsführer von Cognostics, einem Cloudflight Unternehmen, andrej.nikonov@cognostics.de
Literatur
- Güthlin C., Köhler S. & Dieckelmann M.: Chronisch krank sein in Deutschland. Zahlen, Fakten und Versorgungserfahrungen. https://aktuelles.uni-frankfurt.de/forschung/erster-umfassender-report-chronische-krankheiten-in-deutschland/ [01.08.2022]
- Oettingen G., Kappes H. B., Guttenberg K. B. & Gollwitzer P. M. (2015). Self-regulation of time management: Mental contrasting with implementation intentions. European Journal of Social Psychology, 15 (45), 218–229.
- Prochaska J. O., Redding C. A., & Evers K. E. (2015). The transtheoretical model and stages of change. In: Glanz K., Rimer B. K. & Viswanath K. (Hrsg.) Health behavior: Theory, research and practice. John Wiley & Sons.
- Seychell M.: Towards better prevention and management of chronic diseases. https://ec.europa.eu/health/newsletter/169/focus_newsletter_en.htm [01.08.2022]