Digitalisierung
Die Erwartungen an die ePA sind hoch. Erstmalig ist der Transport medizinischer Informationen zwischen den Versorgungssektoren digital möglich. Aber wie wird es weitergehen, kommt damit die umfassende Veränderung der Versorgungslandschaft?

Die stationären und ambulanten Versorgungssysteme sind von jeher in Deutschland getrennte Systemlandschaften: sowohl in der Abrechnung, der Formalorganisation, im Hinblick auf politische Vertretungen als auch der Datenhaltung haben Krankenhaussektor und ambulantes Geschehen kaum Verbindungen zueinander. Über die letzten Dekaden waren es die Patientinnen und Patienten, die ihre eigenen Befunde händisch per Papierbrief von der Klinik zur Niederlassung oder von der Radiologie zur Orthopädie trugen oder gar faxten – mit dem Schutzniveau einer Postkarte. Kein Wunder also, dass an dieser Stelle verschiedene Protagonisten nach Lösungen für die intersektorale Kommunikation – den Datenaustausch – suchten. Bis heute sind die Mehrwerte der Telematikinfrastruktur (TI) im ärztlichen Versorgungsalltag kaum spürbar. Wenig verwunderlich, dass nach all der Zeit des Baus der TI der erste implementierte digitale Service, das Versichertenstammdatenanagement (VSDM), nicht mit Applaus begrüßt wurde. Denn für die eigentlichen Prozessbeteiligten, insbesondere auch Kliniken, entstand keinerlei Nutzen.
An dieser fehlenden Motivation zum Anschluss der Kliniken an die TI änderten auch Subventionen wie das KHZG „Förderung von Patientenportalen“ (§ 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KHSFV) und Sanktionen aus dem § 341 SGB V und verbundene Gesetze, die eine konkrete Anbindungsfirst bis Januar 2021 und Sanktionen ab 2022 vorschrieben, kaum etwas.
Die Revolution mit ein paar Macken?
Umso höher sind nun die Erwartungen gegenüber der elektronischen Patientenakte (ePA), die erstmalig den Transport medizinischer Informationen zwischen den Versorgungssektoren unseres Gesundheitswesens adressiert: Unter der Hoheit der behandelten Menschen werden Daten gesammelt und können fortan aus der Anwendung heraus strukturiert den jeweiligen Behandelnden zur Verfügung gestellt werden. Zwar finden sich in der aktuellen ePA-Ausprägung (sog. Stufe 1.1) noch reichlich funktionale (und teils datenschutzrechtliche) Missstände, wie das „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ im Datenzugriff des Leistungserbringers; dennoch ist es zu begrüßen, dass die Bundesregierung ein iteratives Vorgehen und die sukzessive Weiterentwicklung digitaler Services in das SGB V einzupflegen versucht. Flexiblere Ausprägungen, sogenannte MIOs (Medizinische Informationsobjekte, die durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung definiert werden, z.B. e-Impfpass oder e-Mutterpass) und Mehrwertdienste, die die in der Akte enthaltene Daten verarbeiten oder bereitstellen sollen folgen.
Nicht zuletzt seien die digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA; Apps auf Rezept) erwähnt, die selbst positive Versorgungseffekte bewirken und zudem Daten in die elektronische Patientenakte liefern und dabei Diagnose- und Behandlungsprozesse maßgeblich werden unterstützen können. So werden wertvolle Detaildaten für die Behandlung (z.B. Medikamentenverträglichkeit) beurteilbar.
An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass sich viele verschiedene Abläufe, insbesondere im stationären klinischen Alltag, mit der Anbindung an die TI verändern. Mit der Anschaffung eines Konnektors und einer Handvoll Terminals, SMC-Bs und HBAs ist dem Change-Bedarf bei weitem nicht Genüge getan. Die Digitalisierung benötigt einen Perspektivwechsel und das Neudenken von eingefahrenen „Wir haben es immer so gemacht“-Prozessen. Die Umstellung kostet Zeit, Energie und Geld, wird aber belohnt.
Die Industrie zeigt, wie schwer es ist, von Beginn an vollumfänglichen Nutzen für wirklich alle Teilnehmergruppen eines Ökosystems zu erzeugen – und die Adressaten der TI sind zweifelsohne sehr divers. Zwar nicht immer unmittelbar, aber nach und nach, entstehen in der digitalen Welt jedoch wichtige greifbare Nutzen – auch und insbesondere für die Behandler selbst.
Umfassende Datenlage
Die umfassende Historie der medizinischen Versorgung kann entscheidende Basis zum Verständnis eines aktuellen Behandlungsfalles sein. Zwar wird die versicherte Person einzelne Daten verbergen können, dies im ureigensten Interesse jedoch nur in begründeten, meist schambehafteten Kontexten ausblenden. So werden Anamnese und Diagnostik vereinfacht, indem die relevanten Befunde verfügbar sind. Das Vorliegen der Datensätze als strukturierte Daten wird das schnelle „Überfliegen“ von vorangehenden Diagnosen auch für das ärztliche Auge nach wie vor erlauben.
Verbesserte Patientensicherheit und verschlankte Aufwände
Moderne Softwarelösungen werden insbesondere bei stationären Versorgern Daten in die betreffenden Primärsysteme einpflegen und sogar mehr: Für unerfahrene Ärzte im ambulanten Bereich werden Entscheidungsunterstützungsysteme die Behandlung erleichtern. MIOs, Antragsverfahren und eVerordnungen werden als zusätzliche Services angeflanscht werden und interagieren im Hintergrund mit der ePA. Das Entlassmanagement samt verschiedener Arbeitsabläufe und Informationsflüsse wird vereinfacht, indem Daten interoperabel den Nachversorgern verfügbar gemacht werden.
Immer im Fokus: Datensicherheit
Auch Manipulationen sind zumindest bei den mit Heilberufeausweisen signierten Informationen maximal sicher auszuschließen. Auf deren Authentizität und Integrität kann der Lesende vertrauen. Auch die nicht gekammerten Berufe werden Zugriffsmöglichkeiten auf die medizinischen Informationen erhalten können, die ihnen über die ePA von den Patienten zur Verfügung gestellt werden. Eine präzisere Nach- und Weiterbehandlung wird abbildbar, zudem werden andere Drehtüreffekte verhindert.
Nicht „Ob“ sondern „Wie“
Perspektivisch wird die Frage „Ob ePA?“ nicht zur Diskussionsgrundlage reichen. Spannender ist also die Frage „Wie ePA?“. Sie wird sich mit weiteren datenerzeugenden, -haltenden und -bereitstellenden Plattformen harmonisieren, wovon vielseitige Nutzen – auch für die Versorgungsabläufe in Krankenhäusern – ausgehen werden. Meist sind diese Effekt mittelbar. Doch beispielsweise eine künstliche Intelligenz, die wegen des Abgleiches der individuelle medizinischen Historie einer erkrankten Person vor einer falschen Medikamentenkombination bewahrt oder moderne Therapien, die nicht statistisch evidenzbasiert sondern in einer „n-of-one-Zeitreihenanalyse“ auch individuelle Risiken und Muster berücksichtigen können, werden möglich sein. Heute sollten wir damit beginnen, Daten interoperabel mit unseren Patienten, Patientinnen und den Teams zu teilen. Die ePA ist keine Revolution, aber dann doch ein nächster evolutionärer Schritt in die richtige Richtung.
Kontakt zum Autor: |
Dr. Thorsten Hagemann, Senior Business Developer Health bei adesso SE, Kontakt: Thorsten.Hagemann@adesso.de |