Neuerungen und Recht Die nächste Reform kommt nicht „aus einer Hand“

Ambulantisierung, tagesklinische/teilstationäre Behandlung, stationäre Leistungen: Das BMG will Wirtschaftlichkeit und Personalengpässe durch eine Neustrukturierung der Versorgungsleistungen in den Griff bekommen. Die Bedarfsplanung zeigt: Den Reformbestrebungen sind Grenzen gesetzt. Berliner Gespräche, Auditorium Friedrichstraße, November 2022: Anne-Kathrin Klemm vom BKK-Dachverband brachte es auf den Punkt. Eine wesentliche Reformierung des Gesundheitswesens sei verschlafen worden; das Kollektivvertragssystem war (zu) bequem. Kreative Pilotprojekte wie das Lotsensystem seien daher trotz Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) nicht in die Regelversorgung gekommen. Mit der angestrebten Ambulantisierung schaffe die Ampel ein „Add-in“ im System, keinen Bypass. Warum, so die Kassenverbandvorständin weiter, plane der Bund die Definition und Umsetzung von Hybrid-DRGs per Verordnung, statt das Aushandeln der ambulanten Vergütung der Selbstverwaltung zu überlassen? Vieles, so Klemm, bleibe in der derzeitigen Findungsphase im Unklaren – darunter die Kriterien für eine Unterversorgung als Voraussetzung für Gesundheitskioske. Viele der Reformansätze sind ohnehin laut der Vorständin angesichts der Potenziale von § 140 a unnütz. Und dass die Verantwortung für Strukturen an die Kommunen gehen soll – ohne Einbezug der finanzierenden Kassen sei völlig untragbar. Ob der Minister wohl an eine Kofinanzierung der Leistungsangebote denke? Ein intersektorales Zielbild für die Versorgung müsse her, so Klemms Forderung. Es habe die Bedarfe hinsichtlich der Prävention und chronisch erkrankter Menschen einzubeziehen. Eine Grundvoraussetzung liege in der datenbasierten Transparenz zum aktuellen Stand der Versorgung. Neue Berufsbilder zur Reduktion der Personalprobleme und eine Konvergenzphase bei der Umsetzung sollten mit bedacht werden: „All das geht, siehe Dänemark!“ Berliner Gespräche Diese Diskussionsplattform, angeboten von der Münsteraner Kanzlei Prof. Dr. Peter Wigge bringt seit 21 Jahren Krankenhäuser, Ärzteschaft und Kostenträger zusammen. Im Mittelpunkt stehen Entwicklungen der Rahmenbedingungen. Auch die Veranstaltung im November stellte wenig bekannte, relevante Inhalte aus dem BMG ebenso auf die Agenda wie Sichten aus der Wissenschaft, z.B. zum Grundgesetz im Kontext der Versorgungsstrukturen. Neben Bedarfsplanung und Regionalität war Freiberuflichkeit vs. Anstellung in der Ärzteschaft ein Tagesordnungspunkt – inklusive der kontrovers diskutierten investorengetriebenen MVZ. Reform-Meilenstein Regionalisierung? Eine Neuplanung mit Versorgungsmodellen laut regionalem Bedarf sei angesichts des finanziellen und demographischen Drucks zielführend, betonte in Berlin auch Tom Ackermann. Als neue Elemente böten sich laut dem Vorstandsvorsitzenden der AOK Nordwest die Übertragung ärztlicher Tätigkeiten an Community Nurses, Gesundheitskioske, integrierte Notfallzentren und Telemedizin an. Er forderte den Einbezug von Landesbehörden, Landes-KVs und -Krankenhausgesellschaften sowie der Kassen. Regionalisierung ist erfolgreich machbar; die Kriterien hierfür zeigte an der Friedrichstraße Justin Rautenberg auf. Eine lokale Managementgesellschaft könne als Kümmerer die notwendigen Anreize für eine gemeinsame, auf den Patientennutzen ausgerichtete Versorgung schaffen. Als Kernkomponenten nannte der Senior Manager Product Development bei Optimedis: Versorgungsdaten der Kassen, Gesundheitskioske, Gesundheitslotsen, Versorgungsprogramme, digitale Angebote, Einbezug sozialer Gesundheitsfaktoren (in den USA als „social determinants of health“, SDOH, bereits mit einem Datenstandard definiert), Investitionen und langfristige Verträge. „Patientinnen und Patienten dürfen nicht aufgrund der Sektorengrenzen wie Flipperkugeln durchs System geschickt werden“, postulierte Michael Weller. Da Ressourcen endlich seien, entwickle die Krankenhauskommission derzeit Planungsempfehlungen, so der Leiter der Abteilung Krankenversicherung beim Bundesministerium für Gesundheit (BMG) weiter. Deren Komponenten seien Notfallersteinschätzung, die Integration des Rettungswesens in Versorgungsstrukturen, Hybrid-DRGs per Rechtsverordnungsermächtigung zum 1. Januar 2023 sowie die Entwicklung der Leitplanken für eine Bedarfsplanung – mit Gestaltungsfreiräumen für die Länder. Auch Weller sprach ferner die Implementierung von Community Health Nurses an. Reform mit Bedarfsplanung nicht aus einer Hand Bei dem Stochern im Nebel der Reformideen wurde im Rahmen der Berliner Gespräche eines deutlich erkennbar: Die von vielen grundsätzlich als nötig erachteten Bestrebungen stoßen an Grenzen. Bei einer Zielbildentwicklung und deren Umsetzung müssen die politischen Prozesse und Rahmen eingehalten werden. So ist z.B. eine Bedarfsplanung durch den Bund nicht realisierbar. Das Grundgesetz hält hier nämlich klar dagegen: Die Gesetzgebungskompetenz für die Versorgungsplanung liege bei den Ländern, erklärte Prof. Dr. Ferdinand Wollenschläger. Auch die Vorgaben der Sozialversicherung sprechen gegen eine Vorgabenkompetenz beim Bund. Dieser hat lediglich die Kompetenz, Anforderungen an sozialversicherungsrechtliche Leistungen zu stellen, etwa bezüglich Qualität, erklärte der Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht, Europarecht und Öffentliches Wirtschaftsrecht an der Universität Augsburg. Eine stärkere Einflussnahme durch den Bund sei ohne Verfassungsverstoß denkbar, wenn Modelle die wirtschaftliche Steuerung ins Zentrum stellen. Ansonsten kann der Bund Empfehlungen kommunizieren – Entscheidungen lägen jedoch eindeutig in der gesetzgeberischen Kompetenz der Länder. Wer also annahm, eine sektorübergreifende Reform könne zeitnah aus einer Hand kommen und gegebenenfalls schneller zu Praxisergebnissen führen als die schleppenden, von Bestandsträgheit dominierten Scheingefechte der letzten Jahrzehnte, wird enttäuscht. „Alle Akteure an den Tisch!“: So lautete die Forderung der BKK-Dachverbandsvorständin im Kontext der Reformentwicklung. Kontakt zum Autor: Michael Reiter, Freier Journalist, spezialisiert auf den Gesundheitssektor, michael.reiter-pr@gmx.de

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