Interview mit Claus-Dieter Gorr Gesundheitssystem: Die „Mühen der Ebene“ nicht scheuen

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Claus-Dieter Gorr ist geschäftsführender Gesellschafter bei PremiumCircle und Kenner des GKV-/PKV-Systems. – © PremiumCircle

Er nennt das deutsche Gesundheitssystem auf Twitter „verschachtelt und beitragsvernichtend“ und kennt seine Zusammenhänge und Strukturen wie kaum ein anderer: Claus-Dieter Gorr untersucht sie seit gut zehn Jahren wissenschaftlich – mit HCM spricht er Klartext darüber.

Transparenz: Immer wieder wird sie auf einschlägigen Kongressen und Diskussionsrunden der Gesundheitswirtschaft gefordert – wirklich umgesetzt wird sie nicht ansatzweise. Mit wissenschaftlichen Analysen gelingt es einer Person seit gut einem Jahrzehnt, Struktur in das Unüberschaubare zu bringen: Claus-Dieter Gorr. Der geschäftsführende Gesellschafter von PremiumCircle analysiert den Aufbau und die Funktionsweisen der Gesundheits- und Versicherungswirtschaft und kennt die Zusammenhänge sehr genau. Seine Erkenntnisse bereitet er mittlerweile in der vierten Auflage in einer umfassenden Grafik auf, die bisher v.a. in der Versicherungswirtschaft bekannt war. Durch einen Post von Asklepios-CEO Kai Hankeln im September 2022 auf LinkedIn wurde Gorrs Arbeit schlagartig auch in der Versorgungslandschaft bekannt und sorgte für jede Menge Diskussion. HCM hat das Gespräch mit Gorr gesucht und mit ihm darüber diskutiert, wie es passieren konnte, dass unser Gesundheitssystem so komplex wurde, warum fehlendes Verständnis und Kenntnis darüber eine effektive Neustrukturierung beeinträchtigen und warum nur ein Bewusstsein über diese selbst geschaffene Komplexität die Basis für ein neues und möglicherweise „tatsächlich bestes Gesundheitssystem der Welt“ sorgen kann.

Herr Gorr, ganz ehrlich, was halten Sie von unserem Gesundheitssystem?

Gorr: Das Gesundheitswesen ist unübersichtlich und in den Abhängigkeiten und dem Zusammenspiel kaum überschaubar.

Sie untersuchen die Strukturen seit 2012 wissenschaftlich und halten Ihre Erkenntnisse in einer so beeindruckenden wie ernüchternden Grafik fest. Wie hat sich das System seither verändert?

Gorr: Es ist auf jeden Fall deutlich komplexer geworden: Mehr Schiedsstellen und Gremien, die Telematik kam hinzu sowie etliche Dienstleister rund um die digitalen Gesundheitsanwendungen. Grundsätzlich entwickelt es sich aber so: Es wird medial über ein Problem berichtet und dann wird eine neue Regelung draufgesattelt. Abgeschafft wurde in der fast 30-jährigen Geschichte des SGB V nach meiner Kenntnis noch keine einzige Regelung.

Es ist schon beachtlich, dass sich dieses enorme Konstrukt um die kleine grüne Box am Rand dreht: die Versicherten. Sie werden durch das System beinahe verdrängt. Als Patient entwickelt man dieses Gefühl durchaus immer wieder. Es scheint, als würde Ihre Grafik die Realität sehr vieler Menschen darstellen.

Gorr: Der Eindruck ist richtig. Auch wenn er dem oft gehörten Satz, „der Patient steht im Mittelpunkt“ widerspricht. Die Patientinnen und Patienten werden nicht gefragt. Sie sind die Marionette mit Vollkaskomentalität. In der gesundheitspolitischen Diskussion wird zwar von den Patientenvertretern gesprochen, aber es gibt nicht das eine Patienteninteresse, sondern so viele individuelle Interessen wie Versicherte. Deswegen sollten wir darüber sprechen, wie jeder Mensch – unter Berücksichtigung eigener Kostenverantwortung – mehr Entscheidungen selber treffen kann. Sonst kommen wir nicht weiter.

Wie konnte es passieren, dass unser Gesundheitssystem derart komplex ist?

Gorr: Das Gesundheitssystem hat sich über die Jahrzehnte v.a. immer dann weiterentwickelt, wenn das Geld ausgegangen ist und sich die gesundheitspolitische Diskussion zugespitzt hat. Über die Jahre hat die Politik ihren Einfluss vergrößert, besonders die erste rot-grüne Regierung unter Andrea Fischer und später Ulla Schmidt. Aber ihre Vorstellungen einer stärkeren politischen Rahmensetzung konnten sie nicht durchsetzen. Es mussten Kompromisse eingegangen werden. So ist diese seltsam hybride „Governance“ von Politik und dem „kleinen Gesetzgeber“ G-BA mit den darin vertretenden Spitzenverbänden entstanden. Und an diesem bürokratischen Monster leiden wir heute. Dazu kommen immer neue politische Versprechen – immer kollektiv für alle, ob es von den Menschen gewünscht ist oder nicht.

„Nach meiner Einschätzung haben nur wenige den Überblick.“

Claus-Dieter Gorr

Haben Sie den Eindruck, dass an den entscheidenden Stellen fundiertes Wissen über diese Komplexität ausreichend vorhanden ist, wie es für die (Neu-)Gestaltung nötig wäre?

Gorr: Nach meiner Einschätzung haben nur wenige den Überblick. Manche sagen gar, nur noch Franz Knieps, weil er die ganze Entstehung unter Ulla Schmidt mitbegleitet hat und sich trotzdem noch eine eigene Meinung bewahrt hat. Aber auch er sagt: „SGB V entrümpeln“.

Wie kann man ein so schwer durchdringbares Gesundheitssystem reformieren?

Gorr: Zuallererst müssen wir uns klarmachen, dass wir die „Mühen der Ebene“ nach Bert Brecht nicht umgehen können. Es geht wohl eher um eine Reformperspektive von zehn bis 15 Jahren. Und: Wir brauchen, wie es Nikolaus Huss sagte, ein grundsätzliches Zielbild, das sich an individuellen Patientenbedürfnissen orientiert. Dazu gehört, dass die Ärzteschaft aus der Rolle der Planerfüller entlassen wird, nicht benötigte Kliniken geschlossen oder in ambulante MVZ überführt werden und natürlich die Strukturreform der stationären Versorgung. Wer sich intensiver mit den Herausforderungen, angefangen beim demographischen Wandel bis hin zu den Potenzialen von Digitalisierung und KI, beschäftigt, der weiß, dass Innovation ein kontinuierlicher Prozess ist. Politik und Selbstverwaltung werden mit ihrer Häppchenlogik nicht weiterkommen. Wir müssen uns daran gewöhnen, Klartext zu reden und uns in ein System hineinentwickeln, in dem der, der keine Verantwortung für Veränderung übernehmen will, auf der Strecke bleibt.

„Politik und Selbstverwaltung werden mit ihrer Häppchenlogik nicht weiterkommen. Wir müssen uns daran gewöhnen, Klartext zu reden.“

Claus-Dieter Gorr

Oft wird dem Ruf der Neustrukturierung die Aussage gegenüber­gestellt, Deutschland hätte das beste Gesundheitssystem der Welt. Verschließen solche Aussagen die Augen vor der Realität?

Gorr: Die Fakten liegen auf dem Tisch: Deutschland ist teuer, die Ergebnisse sind mager. Die Beschwörungsgesänge vom „besten Gesundheitssystem“ sollten wir wohl eher als „Folklore“ betrachten. Die größte Schwäche des deutschen Gesundheitswesens ist, dass es keine Innovationsbereitschaft gibt. Ursache: Rollen und Vergütung sind festzementiert, nach SGB V ist alles, was nicht erlaubt ist, verboten.

Liegt diese Bremskultur auch darin begründet, dass die Menschen, die das System „machen“, ihr System nur bedingt wirklich selbst erleben?

Gorr: Das Gesundheitssystem ist an vielen Stellen ein Selbstbedienungsladen derer, die bestimmen und die betrifft es alle nicht. Wir, die gestalten, habe alle große Netzwerke und das berühmte Vitamin B, wenn wir medizinische Hilfe brauchen. Die meisten Versicherten haben das nicht.

Auflösen kann dieses Dilemma eigentlich nur Transparenz, oder?

Gorr: Die Transparenz, die wir zu Recht fordern, ist genauso wenig gewollt wie eine Neuordnung. Das würde bedeuten, dass irgendeine Stelle etwas abgeben muss. So lange die Akteure untereinander das Geld verteilen und davon profitieren, werden wir keine Veränderung erleben.

Gesundheitssystem grafisch aufbereitet

Das deutsche Gesundheitssystem ist komplex. Wie die Strukturen, Prozesse und Zusammenhänge gestaltet sind, zeigt die Darstellung von PremiumCircle auf Seite 20/21 in der HCM-Printausgabe 8/2022. HCM hat dafür eine exklusive Abdrucklizenz erhalten. Nutzungslizenzen können über info@premiumcircle.de bestellt werden.

Das Interview führte:

Bianca Flachenecker, bianca.flachenecker@holzmann-medien.de