Interview mit Prof. Heinz Lohmann Die Frage nach Sozialprestige

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Digitalisierung und Pflegemarkt

In den weit mehr als 40 Jahren, in denen sich Heinz Lohmann in der Branche bewegt, hat sich nichts grundlegendes an der inneren Strukturierung der Pflege verändert, sagt der Gesundheitsunternehmer: Würde diese endlich verändert werden, hätte das positive Auswirkungen auf ihr Ansehen.

Prof. Heinz Lohmann. – © falk von traubenberg

Akademisierung, Gehaltssteigerungen, Pflegehilfskräfte … All die Maßnahmen, um die Pflege aufzuwerten, haben ihr Ziel kaum erfüllen können. Prof. Heinz Lohmann hat sich den Herausforderungen der Pflege von einer soziologischer Perspektive genähert und seine Erkenntnisse in einem neuen Buchbeitrag in „Zukunft der Pflege im Krankenhaus gestalten“ (siehe Seite 74) festgehalten. Seine zentrale Aussage lautet: Neue Arbeitsteilung auf Basis strukturierter Arbeitsabläufe und gestufter Bildungswege sorgt für mehr Sozialprestige der Pflege. HCM hat mit ihm darüber gesprochen:

Prof. Lohmann, Sie schreiben, dass der soziale Status für ein „Uplifting“ der Pflege sorgen könnte. Erklären Sie das bitte einmal genauer.

Lohmann: Der soziale Status ist ein soziologischer Begriff, der den sozialen Standort des Einzelnen, aber auch einer Gesellschaftsschicht in einem gegliederten Gesellschaftsgefüge bestimmt und kennzeichnet. Nun sind Pflegende ungemein beliebt. Sie rangieren bei entsprechenden Umfragen weit oben auf der Skala. Das Krankenhausmanagement hingegen ist äußerst unbeliebt. Genau umgekehrt ist die Einstufung beim sozialen Status. Krankenhausmanagerinnen und -manager stehen weit oben im Ranking. Pflegekräfte weit unten. So wird im Gesundheitssystem der Pflegeberuf kulturell immer noch in den „Heilhilfsberufen“ verortet. Die Ärzteschaft bestimmt im Einzelfall die Behandlung, die Pflege führt aus. Natürlich sieht die reale Situation im Alltag längst völlig anders aus, aber das Rechts- und Finanzierungssystem ist auf das Organisationsmodell des ausgehenden 19. Jahrhunderts, „der Arzt und sein Patient“, ausgerichtet. Daraus resultiert, dass fast alle Pflegenden im Laufe ihres Berufslebens mehrfach in die Situation gekommen sind, dass ihre fachliche Entscheidung über den Haufen geworfen wurde, obwohl sie abgewogen und begründet war. Das führt zu individuellen Kränkungen, die zudem tief im kollektiven Bewusstsein der Berufsgruppe verankert sind.

Warum spricht bisher kaum jemand über den Einfluss des sozialen Status auf die Pflege?

Lohmann: Unsere Gesellschaft hat sich ganz allgemein, aber auch im Wissenschaftsbereich, in den letzten 30 Jahren mehr mit der Forderung nach Nivellierung als nach Differenzierung befasst. Das war früher anders. Mein akademischer Lehrer, Professor Heinz Kluth, hat sich in einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen mit dem Themenkomplex Sozialprestige und sozialer Status befasst. Er und andere Wissenschaftler haben in den 50er, 60er und 70er Jahren des 20.Jahrhunderts den Zusammenhang zwischen Ausmaß des sozialen Prestiges und damit der Position innerhalb der Gesellschaftsordnung und der Teilhabe an der Verwirklichung zentraler Werte aufgezeigt. Diese Gedanken sollten bei der Diskussion und der zukünftigen Rolle der Pflegenden wieder mehr Beachtung finden. Die Bedeutung des sozialen Status wird oft verkannt, hinzu kommt, dass uns die Diskussion darüber als Gesellschaft schwerfällt.

Vielleicht haben die, die Strukturen gestalten, Angst davor, dass etwas Neues entstehen könnte, das den bequemen Status quo erodieren lassen würde?

Lohmann: Ich finde, so richtig bequem ist der Status quo nicht. In der öffentlichen Diskussion ergibt sich heute ein weitgehend negatives Bild der Pflege. Der Pflegeberuf wird häufig als nicht geistig herausfordernd wahrgenommen, sondern auf die hauswirtschaftlichen Elemente reduziert. Alles in allem erscheint die Pflege bei der Berufswahl nicht erstrebenswert. Der Vorstandsvorsitzende eines großen Krankenhaus­unternehmens schilderte kürzlich eine ernüchternde Szene, die bei der Befragung von neuen Auszubildenden in der Pflege auftrat: Eine Berufsanfängerin berichtete, dass ihr Berufswunsch in der Familie auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen sei. Sie habe sich darüber erst hinwegsetzen müssen, um die Ausbildung antreten zu können. Wenn wir diese Sicht auf die Pflege ändern wollen, müssen wir den Trend der letzten Jahrzehnte umkehren. Um zu einer grundlegenden Neubewertung der Pflege in der Öffentlichkeit zu kommen, bedarf es einer Neuerung der Pflege.

Kommentar von Dr. Markus Horneber, Vorstandsvorsitzender der Agaplesion gAG

Wie steht ein Vertreter des Klinikmanagements zur Frage nach dem Sozialprestige der Pflege? Dr. Markus Horneber bezieht Stellung und erklärt seine Einschätzung in einem persönlichen Kommentar.

VUCA-BANI-Welt und Prestige – Health&Care Management (hcm-magazin.de)

Lassen Sie uns konkret werden: Schon für eine einzelne Person ist der soziale Aufstieg, der zu mehr Ansehen führt, oft eine nicht zu bewältigende Aufgabe. Wie kann das für eine ganze Profession gelingen?

Lohmann: Das kann über eine Neustrukturierung gelingen. Nach dem Grundsatz „Pflege ist nicht gleich Pflege“ müssen auf der Basis realistischer Bedarfsprofile differenzierte Arbeitsplatzbeschreibungen erstellt werden. Der Bogen reicht von einfachen hauswirtschaftlichen Tätigkeiten bis zu hochkomplexen fachpflegerischen Leistungen. Die mehrstufige Qualifikationsstruktur ermöglicht den Einsatz unterschiedlich qualifizierter Pflegekräfte. „Gleichmacherei“ hilft nicht, sondern blockiert. Ohne Führung ist ein solcher Anspruch nicht realisierbar. Es braucht ein Bildungskonzept, das die differenzierten Qualifikationen vermittelt. Ausdifferenzierte Kompetenzen sind die Voraussetzung für unterschiedliche Entscheidungsbefugnisse. Die Schaffung einer solchen Pflegestruktur ist Aufgabe der Verantwortlichen in der Pflege selbst. Die Debatte sollte von den Pflegeverbänden in die Öffentlichkeit getragen werden.

Solche neuen Strukturen könnte man, sollte man sich dazu committen, „einfach vorschreiben“. Was aber sehr viel schwerer werden dürfte, ist das Mindset der Menschen zu verändern. Wie kann das gelingen?

Lohmann: Ob man tatsächlich so tiefgreifende Veränderungen „einfach vorschreiben“ könnte und sollte, habe ich doch erhebliche Zweifel. Aber die permanenten Forderungen der Pflege nach mehr Wertschätzung machen in der Tat deutlich, dass hier ein grundlegender kultureller Wandel zwingend erforderlich sein wird, der den mangelnden sozialen Status bekämpft. Auch sind die tradierten Statussymbole, die die Pflegenden sichtbar als Angehörige eines angesehenen Berufsstandes ausgewiesen haben, nach und nach abgeschafft worden. Ebenso ist die innere Differenzierung längst nicht mehr vorhanden. Der „Einheitskasack“ ist heute Praxis. In der Ärzteschaft gibt es eine klare Hierarchie, die auch in der Berufskleidung zum Ausdruck kommt. Natürlich macht die Wiedereinführung aus der Zeit gefallener Statussymbole keinen Sinn. Aber der Verzicht darauf, die Bedeutung eines Berufes so sichtbar zu machen, darf nicht unterschätzt werden. Statussymbole brauchen aber eine grundlegende Umgestaltungen. Dazu zählt auch, intensiv die übergreifende Berufsbezeichnung zu hinterfragen. Die bisherigen „Modernisierungen“ haben nicht den gewünschten aufwertenden Erfolg erzielt. Warum sollten Beschäftigte in der Pflege nicht beispielsweise Pflegetherapeutinnen und Pflegetherapeuten heißen?

Wie kann die Digitalisierung das Berufsbild der Pflege aufwerten?

Lohmann: Die Pflege muss ganz oben auf die Agenda der Digitalisierungsprogramme der Krankenhäuser gesetzt werden. Pflegende müssen durch digitalen Workflow von Logistik und Dokumentation wirksam entlastet werden. Alles, was automatisiert werden kann, muss automatisiert werden. Robotik wird dazu bitter notwendig sein. Die Digitalisierung kann als Initialzündung für den Modernisierungsprozess der Pflegestrukturen genutzt werden. Sie erfordert nämlich einen Paradigmenwechsel vom tradierten Institutionenbezug des Gesundheitssystems hin zu einer strikten Orientierung am Behandlungsprozess. Damit gewinnt die Pflege an Bedeutung, weil dieser Berufsstand die Erwartungen der Patientinnen und Patienten „aus erster Hand“ am besten kennt. Die Geschäftsführungen von Krankenhausunternehmen müssen die konsequente Patientenzentrierung der neu zu gestaltenden Behandlungsprozesse fest in den Fokus ihrer Programme und Projekte nehmen, wenn sie ihrerseits erfolgreich sein wollen.

Welchen Beitrag können denn die an Pflege angrenzenden Professionen leisten?

Lohmann: Neue Verantwortlichkeiten in der Pflege erfordern auch ein Umdenken in anderen medizinischen Berufen, insbesondere in der Ärzteschaft. Eine gute Medizin ist heute eine Gemeinschaftsleistung. Die inhaltliche Entscheidungsbefugnis muss deshalb funktional auf die Berufsgruppe übertragen werden, die die größte fachliche Kompetenz mitbringt. Die Gesamtverantwortung für den Medizinbetrieb braucht eine Organisationsverantwortung, die berufsgruppenübergreifend ansetzt. Unterhalb dieser Ebenen entscheiden und verantworten künftig die Führungskräfte ihren berufsspezifischen Bereich in eigener Kompetenz. Mit der Neuordnung werden Realität und Organisationsstruktur wieder in Einklang gebracht.

Zukunft der Pflege medhochzwei
Ein Werk, das die Herausforderungen der Pflege mit neuen Denkansätzen beleuchtet. – © medhochzwei

Buchtipp zum Thema

„Die Zukunft der Pflege im Krankenhaus gestalten“ – mit einem umfassenden Überblick über die aktuellen Herausforderungen in der Pflege aus vielen unterschiedlichen Perspektiven sowie konkrete Handlungsempfehlungen für die weitere Entwicklung der Pflege gibt dieses Werk neue Inspiration. Prof. Heinz Lohmann ist einer der Autoren und widmet sich wissenschaftlich und soziologisch in seinem Kapitel der Frage nach mehr Sozialprestige in der Pflege.

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Die Herausgeber des Buchs „Zukunft der Pflege im Krankenhaus gestalten“, Prof. Dr. Vera Antonia Büchner, Roland Engehausen, Marie Peters und Maria Schwaiberger stellten auf dem Hauptstadtkongress 2023 in Berlin mit Klaus Holetschek, Bayerischer Staatsminister für Gesundheit und Pflege sowie Vera Lux, das Buch vor.

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