Gendermedizin gewinnt an Bedeutung Der kleine, große Unterschied

Warum sind Männer und Frauen unterschiedlich krank? Beziehungsweise: Warum gewinnt diese Frage erst jetzt an Bedeutung? Wo es doch klar sein sollte, dass verschiedene DNA, eine verschiedene biologische „Ausrüstung“ schlicht andere Behandlung braucht. Dr. Martina Kloepfer über einen Forschungszweig, der zurecht an Fahrt gewinnt.Die Gendermedizin gewinnt an Bedeutung.Würden Passanten einer Einkaufsstraße spontan nach dem höchsten Sterberisiko für Frauen befragt, käme wahrscheinlich „Brustkrebs“ als Antwort. Ein Irrglaube, wie der Deutsche Herzbericht von 2016 zeigt. Auch wenn insgesamt weniger Frauen einen Herzinfarkt erleiden, so erliegen im Vergleich zu männlichen Patienten rund doppelt so viele ihrem ersten Infarkt und laufen bei Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems Männern den Rang ab. Im Jahr 2010 verstarben 203.218 Frauen daran und 149.471 Männer. Die Zahlen müssten eigentlich nicht erstaunen, denn mit der Ärztin Marianne J. Legato wurden bereits in den 1980er- Jahren an der Columbia-Universität in den USA geschlechterspezifische Unterschiede bei kardiovaskulären Erkrankungen erforscht und so der Grundstein für Gendermedizin gelegt, die bei Erkrankungen sowohl das biologische als auch das soziokulturelle Geschlecht in den Fokus nimmt. Legato fiel vor rund 40 Jahren auf, dass Frauen nicht nur einen Herzinfarkt erleiden können, sondern auch häufiger daran verstarben als Männer. Der Gedanke, dass es sich nicht um eine reine Männerkrankheit handelte, war zu der Zeit durchaus nicht selbstverständlich. Als Role Model diente und dient z.T. immer noch der Managertyp: ein übergewichtiger Mitfünfziger, der raucht und zu viel arbeitet. Ein Bild, das gedanklich auf (Haus)Frauen nicht übertragbar war. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Symptome eines weiblichen Herzinfarkts von denen eines männlichen deutlich unterscheiden können. Statt der Schmerzen im linken Arm machen sich „nur“ Übelkeit, Druck im Oberbauch und Schwindel bemerkbar. Welche biologische Begründung es hierfür gibt, steht letztendlich noch nicht fest. Jüngste Forschungsergebnisse zeigen, dass es augenscheinlich nicht am zusätzlichen X-Chromosomen liegt. Diese Erkenntnisse und die veränderte Lebensrealität von Frauen scheinen aber nur langsam im Versorgungsalltag anzukommen. Während in den „ESC POCKET GUIDELINES“ noch 2011 ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass „Frauen und Männer [...] in gleicher Weise diagnostiziert und behandelt werden“ sollten, bezieht die „Nationale Versorgungsleitlinie Chronische KHK“ endlich Anfang 2016 weibliche Symptome mit ein. Ein weiblicher Herzinfarkt droht aber auch heute noch unerkannt zu bleiben und zu spät diagnostiziert zu werden. Was bedeutet Gendermedizin für Männer?Folgt die Diagnose eines Herzinfarktes z.T. immer noch der typisch männlichen Symptomatik, verhält es sich beim Krankheitsbild der Depression umgekehrt. Dem Männergesundheitsbericht 2013 ist es u.a. zu verdanken, dass auch Männer mit psychischen Erkrankungen zunehmend wahrgenommen werden. Traditionell werden somatische Störungen bei Frauen eher mit psychischen Ursachen in Verbindung gebracht und psychische Belastungen bei Männern zunächst auf physische Ursachen untersucht. Stress, bedingt durch Leistungsdruck, Arbeitslosigkeit oder Krisen im Privatleben, wirkt sich jedoch auch auf die männliche Psyche aus. Eine „männliche“ Depression muss sich jedoch nicht notwendig durch Rückzug äußern, sondern kann sich auch hinter besonders aggressivem Verhalten, gesteigertem Sucht- oder Risikoverhalten oder auch hinter der exzessiven Ausübung von Sport verbergen; also Verhaltensweisen, die sich mit einem gängigen Männlichkeitsbild durchaus decken und so eine korrekte Diagnose erschweren. Aus Sorge vor Stigmatisierung kann eine seelische Erkrankung seitens der Patienten geleugnet werden und bei männlichen Ärzten dazu führen, eine Depression bei einem Patienten eher zu „übersehen“ als bei einer Patientin. Eine dreifach höhere Suizidrate im Vergleich zu Frauen würde für ein revidiertes Rollenbild im Kontext psychischer Erkrankungen sprechen. Arzneimittel und StudiendesignManche Arzneimittel können bei Frauen verstärkt unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen, anders als bei Männern oder sogar gar nicht wirken. So senkt Acetylsalicylsäure (ASS) erst bei Frauen ab 65 das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden und wirkt stattdessen eher präventiv beim Schlaganfall. Der Arzneimittelreport der Barmer GEK von 2012 listet auf, dass v.a. ältere Frauen, nicht nur häufiger als Männer Psychopharmaka erhalten, sondern in der Regel auch schlechter vertragen; denn bestimmte Wirkstoffe, wie z.B. Diazepin, werden deutlich langsamer abgebaut. Die männliche und weibliche Leber unterscheiden sich deutlich in ihrer Enzymzusammensetzung, die sich zudem mit dem Alter verändert. Auch ein höherer pH-Wert im weiblichen Magen führt zu einer längeren Verweildauer von Medikamenten in fester Darreichungsform. Während Frauen generell als schmerzempfindlicher gelten, zeigt sich, dass der Bedarf an Morphinen bei Männern nach einer Krebsoperation um circa 40 Prozent höher liegt, da der Wirkstoff bei weiblichen Opiatrezeptoren leichter andockt. Die meisten, gängigen Arzneimittel wurden in der Vergangenheit kaum oder gar nicht am weiblichen Organismus erforscht und die Dosierung richtete sich oft nur nach dem Körpergewicht. Der weibliche Zyklus, eine mögliche Schwangerschaft und die Veränderung des Hormonspiegels nach den Wechseljahren erhöhen die Komplexität des Studiendesigns und erschweren die Messbarkeit. Inzwischen beginnt sich hier ein Umdenken durchzusetzen. Diabetes und KrebsBei Volkskrankheiten wie dem Diabetes-Typ 2 konnte Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer in Wien nachweisen, dass ein niedriger Testosteronspiegel bei übergewichtigen Männern und ein hoher Androgenspiegel bei Frauen das Risiko zu erkranken erhöht. Soziokulturelle Aspekte wie schlechtere Bildung und Mehrfachbelastung erschweren v.a. Frauen den Umgang mit der Krankheit. Sie leiden vermehrt unter Depressionen und haben ein drei- bis siebenfach erhöhtes Schlaganfallrisiko im Gegensatz zu ihren männlichen Leidensgenossen. Bei Krebserkrankungen scheinen Frauen dagegen im Vorteil zu sein. Hier mag bei Männern die zögerliche Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen eine Rolle spielen, allerdings beeinflussen die Sexualhormone Östrogen und Testosteron das Immunsystem und damit den Krankheitsverlauf nicht unerheblich. Welche Weichen durch das XX- bzw. XY-Chromosomenpaar gestellt werden, ist noch Gegenstand der Forschung. Galt Lungenkrebs bislang als „männlich“, werden laut Deutschem Krebsforschungszentrum (dkfz) emanzipationsbedingte Veränderungen im Life-Style künftig dazu führen, dass die Zahl der Lungenkrebserkrankungen bei Frauen deutlich zunehmen und bei Männern voraussichtlich abnehmen wird. Der männliche Körper weiter als Matrix?Diente und dient bislang der männliche Körper als Matrix für den menschlichen Organismus, zeigen die Forschungsergebnisse der Gendermedizin, dass das komplexe Zusammenspiel zwischen biologischem und soziokulturellem Geschlecht z.T. einen erheblichen Einfluss auf Diagnose und Therapie bereits gut erforschter Krankheiten hat. Inwieweit diese Erkenntnisse Patienten künftig im Versorgungsalltag zugutekommen, wird eine gesundheitspolitische und damit eine strukturelle Frage sein.

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