Neuausrichtung der Versorgungslandschaft in den USA Amazon Care ist nur ein Puzzlestück

Amazon Care: Krankenhaus-Chefs in Deutschland beobachten die Trends in der US-Gesundheitsversorgung – und versuchen, Rückschlüsse aus dem Eintritt des Versandhändlers in den Versorgungsmarkt zu ziehen. Für Fachleute ist der Trend deutlich vielfältiger.Noel Guillama-Alvarez, Chairman of the Board beim Healthcare-Inkubator Oxio Health, Inc.Im September 2020 startete der größte Versandhändler sein Angebot für Gesundheitsversorgung. Zielgruppe waren die Angestellten in Seattle im US-Staat Washington. Das Programm umfasst virtuelle „health clinics” und virtuelle Leistungen per App. Aber wie lautet die Zielsetzung? Amazon möchte die Gesundheitskosten für seine Mitarbeitenden senken. Das System von Versicherung und Kostenerstattung ist in den USA anders als hier; Arbeitgeber mit mehr als 50 Angestellten müssen einen Teil der Kosten für die Krankenversicherung übernehmen, Produktivitätsverluste bei Arbeitskräften sind unwillkommen. So übernahm Amazon den „Health Navigator“, um mit der Integration dieses Technologie-Start-ups das Hausarztprogramm zu unterstützen. Im März 2021 wollte das Unternehmen auf Basis der „Amazon Care App“ seine Telemedizinleistungen Arbeitgebern weltweit anbieten. Die App ermöglicht es Nutzern rund um die Uhr Kontakt mit Medizinern und Pflegepersonal aufzunehmen – per In-App-Chat oder Video. Nach dem Start im Staat Washington soll die „Telemedizin“-App im Sommer 2021 Amazon-Angestellten und anderen interessierten Arbeitgebern zur Verfügung stehen. Amazon-Care-Direktorin Kristen Helton bezeichnete dies als großen Schritt für zukunftsorientierte Arbeitgeber. Das Pricing für andere Arbeitgeber gab Amazon nicht bekannt. Wie Google, Apple und weitere Giganten bewegt sich Amazon an den Gesundheitsmarkt heran – mit dem Schwerpunkt auf medizinische Leistungserbringung, „Hier und jetzt“-Ansatz fürs GesundheitswesenNatürlich tauchen Vorbehalte hinsichtlich des Schutzes persönlicher Daten durch Amazon auf. So zitierte die Washington Post Arielle Trzcinski, Senior-Analystin bei Forrester Research: „Wenn wir uns die großen Tech-Unternehmen anschauen, sollten wir dieses mulmige Gefühl – den ‚creepiness factor‘ – im Auge behalten. Die Kunden sagen sich‚ wenn ich euch meine Daten anvertraue, dann muss mir das wirklich spürbare Vorteile bringen‘“. Die Washington Post berichtete weiter, Helton habe mitgeteilt, dass Amazon keinen Zugang zu persönlichen Gesundheitsdaten habe und keine Produktangebote auf Basis solcher Daten machen werde. Trzcinskis Kernbotschaft lässt die Leistungserbringer hierzulande aufhorchen: Amazon hatte für eine Disruption im Einzel- und Versandhandel (nicht nur in den USA) gesorgt – durch die Einführung einer Zwei-Tages-Lieferfrist im Prime-Mitgliederprogramm. Offensichtlich will das Unternehmen den „Hier und jetzt“-Ansatz auch für Gesundheitsleistungen durchsetzen und Kunden „bei ihrem Bedarf abholen“. Einschätzungen eines US-Healthcare-ExpertenNoel Guillama-Alvarez ist ein Urgestein im Healthcare-Sektor in den USA. Heute agiert er u.a. als Chairman of the Board beim Healthcare-Inkubator Oxio Health, Inc. „Amazon hat den Bedarf an Technologie im Gesundheitsmarkt erkannt“, sagt Guillama-Alvarez. „KIS-Anbieter und Kostenträger nutzen das Hosting-Angebot AWS von Amazon. Das Unternehmen hat Medizintechnik im Lieferportfolio; es hat den Online-Pharmazeutika-Akteur PillPack gekauft – mit der patientenindividuellen Konfektionierung von Medikamenten inklusive Einnahmehinweisen. In diesen Aktivitäten steckt auch die Herausforderung HIPAA-konformen Datenhandlings, also des US-Vorgabenpakets zum Patientendatenschutz. Daneben engagiert sich Amazon in ‚industrial medicine‘, also im betrieblichen Gesundheitsmanagement sowie der Koordination medizinischer Leistungen für Mitarbeitende.“ „Technologie ja, medizinische Leistungen nein“Typischerweise wollen solche Unternehmen nicht selbst zum Anbieter medizinischer Leistungen werden – sie wollen das Anstellen von Fachpersonal, das Organisieren von Arztzentren und Kliniken sowie die Übernahme von Verantwortung etwa bei Behandlungsfehlern vermeiden. Ein weiterer Aspekt: Die Zielgruppe der Mitarbeitenden umfasst Erwachsene im Arbeitsleben – nicht Kinder oder Ältere mit ihren anderen gesundheitlichen Herausforderungen, so der Hinweis von Guillama-Alvarez. Mehr Erfolg durch Konsolidierung?Auch andere Akteure streben ein größeres Stück am „Kuchen“ des Gesundheitsmarktes an. So weitet die Drogerie- und Apothekenkette CVS ihr Geschäft durch die Akquise einer Health Maintenance Organization (HMO) aus; der Konkurrent Walgreens sucht Partner für ähnliche Aktivitäten. UnitedHealth ist mit 200 Milliarden US-Dollar (von ca. drei Billionen) der größte US-Krankenversicherer, erklärt Guillama-Alvarez. Die Erbringung medizinischer Leistungen „managed care“, mit rund 10.000 Ärzten, ist Teil des Geschäfts. Dieser Unternehmensbereich, Optum, hat ein Umsatzziel von 100 Milliarden US-Dollar. Daneben gibt es eine dritte Geschäftsaktivität: Daten. Sie sind der Schlüssel für die Steuerung des Geschäfts. Mit der Akquise des Healthcare-Technologie-Anbieters Change Healthcare will UnitedHealth diesen Bereich weiter ausbauen, was Proteste seitens der American Hospital Association AHA hervorgerufen hat. Offizielles Ziel der Übernahme ist, Outcomes zu verbessern und Kosten zu verringern. Der United-Health-Unternehmensbereich und Change Health agieren im komplexen Bereich „hinter der Bühne“ des US-Gesundheitsmarktes. Dort entscheiden Akteure, welche medizinischen Behandlungen angemessen sind und vermitteln Informationen über Ansprüche und Erstattungen zwischen Versicherern, Leistungserbringern und Patienten. Guillama-Alvarez’ Einschätzung: Hier entsteht gerade der größte Akteur mit Versicherung, Leistungserbringung – und einem riesigen Datenfundus. „Wir stehen in den USA am Anfang einer Renaissance des Gesundheitswesens“, betont Guillama-Alvarez und erklärt weiter: „Besser ausgebildete, informierte, gesündere Baby-Boomer prägen das Marktgeschehen bis 2030. Sie haben Technologie ihr Leben hindurch eingesetzt, können damit umgehen und erwarten mehr davon in der Gesundheitsversorgung. Elektronische Kommunikation und Interaktion mit Ärzten lassen sich nicht mehr abwenden.“ Der Insider ist optimistisch für die kommenden Jahre: Zugang, Qualität und Kosten im Bereich Gesundheitsversorgung werden sich dank Technologie deutlich verbessern … unabhängig von der Konstellation der Anbieter. „Key differentiators“Technologie und Daten sind laut dem Branchenkenner Noel Guillama-Alvarez die Hauptunterscheidungsmerkmale für die Zukunft der Leistungserbringung: Auf der Ebene der Verbraucher: Telemedizin und Internet of Things (IoT) erhöhen Qualität und senken Kosten. Immer sind auch physische Standorte nötig, auch wenn sich die Nutzung der Telemedizin im Rahmen der Corona-Krise von einem auf 70 Prozent erhöht hat. Dieser Anteil geht nun wieder zurück. Zum Ende des Jahrzehnts sieht Guillama-Alvarez rund zehn Prozent Telemedizinanteil. Er betont: Ältere machen den Hauptanteil an Patienten aus – sie sind multimorbid und schwer „remote“ zu behandeln.Prädiktive Analytik hilft, das Geschäft der Leistungserbringung zu verbessern – etwa Akutfälle abzuwenden, Ambulantisierung voranzubringen, Erkrankungen generell besser zu managen und Kosten zu reduzieren … auf dem Weg zu enormen 20 Prozent Anteil des Gesundheitsmarkts am US-Bruttosozialprodukt.

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