Spiele bei Demenz Aha-Erlebnisse im Pflegealltag durch Gemeinschaftserfahrungen

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Es wird zu oft über Menschen mit Demenz gesprochen, zu selten mit ihnen. Dieses Muster lässt sich mit Gewinn für alle durchbrechen. Wie das geht zeigt etwa die Spieleentwicklung. Dabei entstehen Gemeinschaftserlebnisse, die an Demenz erkrankte Menschen entspannen und ermutigen. Das „entstresst“ auch den Pflegealltag.

AWO-Seniorenzentrum-Schattige-Buche
Tovertafel-Spiel im AWO-Seniorenzentrum „Schattige Buche“. – © AWO-Seniorenzentrum „Schattige Buche“

Wer je in den Fluren eines Pflegeheims für Menschen mit Demenz unterwegs war, den könnte ein Besuch in der Schattigen Buche in Bottrop überraschen. Fröhliches Gelächter dringt aus dem Gemeinschaftsraum. „Ah, die Tovertafel!“ Hartmut Skrok bleibt kurz stehen. „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Gruppe von dementen Personen, darunter einige in Einzelbetreuung, auch nur eine Viertelstunde lang damit spielt, dass sie Kontakt untereinander aufnehmen, miteinander lachen, sich gegenseitig ermuntern, ja, sich überhaupt bewegen“, gibt der Leiter der AWO-Senioreneinrichtung unumwunden zu. Das gemeinsame Spiel am Tisch unter einem Lichtprojektor, der unauffällig an der Raumdecke montiert ist und per Sensortechnologie die Bewegungen der Spielenden erfasst, um diese in logische Spieleabfolgen umzurechnen, das müsse man einfach selbst erlebt haben.

Spielen für an Demenz Erkrankte: Spaß statt Versagensängste

Hoch konzentriert fegen zwei Damen und ein Herr bunt leuchtendes Herbstlaub auf der Tischplatte vor sich zur Seite. „Ja ja, das Laub immer schön zum Nachbarn, das kenne ich schon!“, foppt der Herr seine Mitspielerinnen. Unter großem Hallo versuchen sie zu dritt die Marienkäfer zu erwischen, die darunter zum Vorschein kommen. Erinnerungen werden plötzlich wach, Anekdoten aus der Kindheit ausgetauscht. „So etwas lässt sich mit anderen Mitteln kaum erreichen“, sagt Betreuerin Katharina Kozlak . „Man muss keine Spielbretter, keine Spielfiguren aufbauen oder wegräumen. Ich kann unter zahlreichen Spielen wählen. Vor allem aber gibt es an der Tovertafel keine Gewinner und keine Verlierer. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben Spaß, keine Versagensängste. Und: Auch wir lernen, wieder ausgelassen zu spielen.“

Inklusives Co-Design gemeinsam mit an Demenz erkrankten Menschen ist der Schlüssel

Die Spiele für die Tovertafel (dt. Zaubertisch) werden gemeinsam mit an Demenz erkrankten Menschen, Betreuenden und Angehörigen entwickelt. Inklusives Co-Design nennen sie das bei Tover. Spieleentwicklerin Marije Seinen erklärt, wie es funktioniert: „Alle unsere Spieleideen beruhen auf Anregungen aus der Praxis. Unsere Entwürfe probieren wir vor Ort gemeinsam aus, beobachten das Spielgeschehen ganz genau, zeichnen das auch per Video auf und sammeln so wertvolle Hinweise für die Entwicklung der Prototypen, die wir dann wieder mit allen testen.“ Alles hänge davon ab, was die Spielenden dazu sagen und wie sie damit interagieren. Das sei keinesfalls immer vorhersehbar. „Im Gegenteil, wir lernen immer wieder dazu.“

Am Ende können alle mithalten

Dass an Demenz erkrankte Menschen besonders aktiv auf Musik aus ihrer Jugend reagieren, das z.B. hätten sie sich zwar gedacht, als sie das neue Spiel Muzikbox entwarfen. „Dazu gibt es klare Ergebnisse aus der neuropsychologischen Forschung. Die Wirkung hat uns trotzdem überrascht. Niemand blieb still sitzen. Die einen wippten, die anderen klatschten mit, und auf einmal sangen alle miteinander, manche kannten jede Strophe auswendig“, erzählt Seinen. „Die ursprüngliche Abfolge der Lieder jedoch war zu schnell. ,Das wird nix‘, sagte uns prompt ein Mitspieler. Einige brauchten einfach größere Pausen. Die haben wir dann eingebaut und beenden nun jeden Song mit Applaus. Auf diese Weise können alle leichter mithalten und die Musik genießen.“

Spielen auch bei fortgeschrittener Demenz

Die Ergebnisse des Co-Designs kommen gut an, auch in Bottrop: „Wenn ich meine Mutter besuche, und die Betreuerin startet die Tovertafel, dann ist meine Mutter sofort mit leuchtenden Augen dabei. Und dann kommen auch andere dazu. Es ist einfach nur erstaunlich, wie aktiv und gelöst plötzlich alle bei der Sache sind“, freut sich Ute Höfer, eine Angehörige. Diese Art der Aktivierung funktioniere immer und zwar auch im fortgeschrittenen Stadium einer Demenz, bestätigt Kozlak: „Für jedes Tempo und jede Vorliebe ist etwas dabei.“

Tovertafel in Aktion

Die niederländische Pflegeinnovation Tovertafel (Zaubertisch) kann gegen Apathie helfen und bringt Menschen mit mittelschwerer bis schwerer Demenz in Bewegung. Ein Video zeigt, wie die Tovertafel funktioniert.

An der Belastungsgrenze in Zeiten von Corona

Wie wichtig solche Angebote sind, habe ihm die Corona-Krise vor Augen geführt, sagt Skrok: „Es ist bekannt, dass die Demenz Ängste, Unruhe, Apathie und auch Aggressionen auslöst. Mit sinnhaften Aktivitäten und Gemeinschaftserlebnissen lässt sich dem entgegensteuern. Das kam in der Lockdown-Zeit oft zu kurz.“ Auch in Bottrop brachte das Betreuende und Pflegekräfte an ihre Belastungsgrenze. In der „Schattigen Buche“ haben sie rasch nach Lösungen gesucht. Mit alternativen Besuchskonzepten, digitalen Kommunikationshilfen wie Tablets und Smartphones sowie Tovertafel-Spielen in kleinerer Runde ließ sich vermeiden, dass die Isolation ihren Preis forderte.

Umdenken in der Versorgung von Menschen mit Demenz erforderlich

Die pauschale Berichterstattung zu den drastischen Folgen der Kontaktverbote und Hygienevorschriften für Menschen mit Demenz habe ihn schon gefuchst, bekennt Skrok. Es habe ja zuvor keiner danach gefragt, was tatsächlich sinnvoll ist und gebraucht wird, bemerkt er etwas bitter: „Es wurde ständig über die vulnerablen Gruppen geredet, aber nie mit ihnen und auch nie mit uns.“ Dass Studien belegten, dass sich die Prognosen Demenzerkrankter unter den Bedingungen von Corona generell verschlechterten, Depressionen und Apathie zunahmen, könne nicht verwundern: „Es mangelt seit langem an Investitionen in Personal und bessere Pflegekonzepte. Hier müssen wir grundlegend umdenken.“

Diesbezüglich scheint sich nun mehr zu tun: Die im September 2020 gestartete Nationale Demenzstrategie der Bundesregierung will Deutschland „demenzfreundlicher“ gestalten. Zu den Maßnahmen, die bis 2026 umgesetzt werden sollen, zählt auch die Stärkung nicht-medikamentöser, aktivierender Therapien unter Einsatz digitaler Hilfsmittel wie der Tovertafel. Skrok bleibt skeptisch: „Solche Anschaffungen müssen wir aus Spenden finanzieren. Die Mittel aus dem refinanzierten Satz für soziale Betreuung geben das nicht her. Aber warum sollten wir die Kosten dafür in Zukunft nicht solidarisch durch die Pflegekassen tragen?“ Eine gute Frage.