Überlegungen aus der Schweiz 6 Erkenntnisse aus Pandemiezeiten

Die Schweiz hatte während der Corona-Pandemie ein gesundheitspolitisches Versagen erlebt, das in explodierenden Infektionszahlen endete. Der schweizer Gesundheitsökonom Willy Oggier fasst die Lage im Nachbarland zusammen und stellt sechs Hypothesen auf. Die Corona-Pandemie in der Schweiz begann offiziell am 24. Februar 2020 mit dem ersten dokumentierten Fall in der Clinica Luganese. Diese und die öffentlichen Spitäler im Kanton Tessin erstellen zusammen ein Konzept und schlagen dem Kanton vor, den Lockdown vorzunehmen. Der zuständige Bundesbeamte reist ins Tessin und erklärt, dies sei nicht nötig. Zwei Tage später entscheidet der Bundesrat, den Lockdown vorzunehmen. In dieser ersten Phase ist die Entwicklung am Anfang unterschätzt worden. Nach dem Lockdown machten Wirtschaftsvertreterinnen und -vertreter schnell Druck, wieder zu öffnen. Bezüglich der Öffnung der verschiedenen Branchen beginnt das Lobbying und die Kommunikationskonfusion nach dem Motto „Fast jeder ist ein Experte“. Die vom Bund eingesetzte Task-Force und v.a. verschiedene ihrer Mitglieder trugen ihre persönlichen Meinungen prominent medial in die Öffentlichkeit. Beispielhaft sind auch gegenteilige Aussagen der Vertretung des Bundesamts für Gesundheit (BAG) und eines Task-Force-Mitglieds, notabene am gleichen Tag: „Wir stehen nicht wesentlich schlechter da als das europäische Ausland“ (Anne Lévy, BAG-Direktorin, in: SonntagsBlick, 22. November 2020). Prof. Dr. Monika Bütler, Mitglied Task-Force, erklärt: „Wir haben nicht nur eine der höchsten Todesraten Europas, sie ist auch viel höher als diejenige der USA.“ (zitiert nach: www.blick.ch, 22. November 2020). In den kantonalen Regierungen ließen sich unter den Gesundheitsministern unterschiedliche Meinungen feststellen. Ebenso gab es zwischen Gesundheitsministern und anderen Regierungsmitgliedern verschiedene Auffassungen. Dies gipfelte im Kanton Zürich darin, dass die neue Gesundheitsministerin von ihren Regierungskollegen anfangs nicht in die Task-Force aufgenommen wurde. Für die Zukunft lassen sich aus diesen Szenarien folgende Erkenntnisse ableiten: 1 Es braucht eine Public-Health-Kultur Offensichtlich geworden ist die geringe Public-Health-Orientierung und das geringe Denken in volkswirtschaftlichen (statt betriebswirtschaftlichen) Dimensionen. Die Schweiz hat im Gegensatz zum angelsächsischen, nordeuropäischen oder spanischen Raum keine echte Public-Health-Kultur. Auf welchem Niveau die Diskussion Public-Health-mässig phasenweise lief, zeigen Äuße-rungen des Epidemiologen Prof. Marcel Tanner, der zu diesem Zeitpunkt in der wissenschaftlichen Task-Force des Bundesrats die Expertengruppe für öffentliche Gesundheit (Public Health) leitete und sich u.a. wie folgt äußerte: „Wenn wir jetzt nicht alles falsch machen, wird es keine flächendeckende zweite Welle geben“ (Neue Zürcher Zeitung, Nr. 118, 23. Mai 2020). 2 Anreize müssen richtig gesetzt werden Wir haben ein Anreiz-Problem. Wer am meisten schreit, bekommt am meisten Goodies. Dadurch wurden Öffnungen der Gastronomie zu schnell vorgenommen und die Branche gleichzeitig mit viel Geld versorgt. Aus internationalen Publikationen waren die häufigsten Übertragungswege früh klar. Jure Leskovec u.a. von der Stanford Universität in Palo Alto nutzten Bewegungsdaten aus zehn Großstadtregionen in den USA in 57.000 Stadtteilen. Restaurants, Cafés und Fitnesscenter waren die wichtigsten Treiber. Trotzdem gab es Bestrebungen, für die laut aufschreiende Gastronomie Ausnahmen zu machen. Nach dem Motto „Wer am meisten schreit, bekommt am meisten Geld“ ist während der Corona-Pandemie auch mehrfach gegen das Versicherungsprinzip verstoßen worden. Wer Prämien für einen Versicherungsschutz bezahlt, hat die Leistungen zugute. Doch: Wer sich die Gelder gespart hat, bekam durch entsprechende Parlamentsentscheide trotzdem Geld – vom Steuerzahler. Bei „arbeitgeberähnlichen Angestellten“, also bei Gesellschaftern einer AG oder einer GmbH, wurde dagegen eine pauschale Kurzarbeitsentschädigung bei 100 Prozent von 3.230 Schweizer Franken monatlich vorgesehen. Diese Personen haben Sozialversicherungsbeiträge bezahlt, auf dem vollen Lohn und nicht nur auf 3.230 Franken. 3 Kommunikation der Politik optimieren Manifestiert hat sich auch ein eigentliches Politikversagen. Davon zeugen zu lange Entscheidungswege, Verzicht auf Boni-Mali-Systeme und das Profilieren mit Liberalisierungsmassnahmen am falschen Ort. Der Schweizer Gesundheitsminister Alain Berset sagte im August 2020: „Die Situation hat heute nicht mehr viel mit dem zu tun, was wir im Februar und März erlebt haben. Wir wissen jetzt, was es braucht, um uns und andere zu schützen. Wir haben es in unseren Händen.“ Und: „Ich würde sagen, wir haben die Situation im Griff“ (zitiert nach Neue Züricher Zeitung, Nr. 50, 2. März 2021). Ein paar Monate später gehörte die Schweiz zu den Ländern mit den höchsten Infektionszahlen weltweit. Wenige Wochen später sagte der Gesundheitsminister in einem Interview mit der Neuen Züricher Zeitung (Nr. 253, 30. Oktober 2020): „Wir stehen nicht unmittelbar vor einer Katastrophe. Panik bringt nichts. (…) Wenn wir im Bundesrat überzeugt wären, in zehn Tagen seien die Spitäler in der ganzen Schweiz überlastet, hätten wir diese Woche noch strengere Massnahmen beschlossen.“ Dabei war zehn Tage vorher die kritische Situation der Schweiz Thema in der Öffentlichkeit: „Fallzahlen steigen so schnell wie in kaum einem anderen Land“ (Tages-Anzeiger, 20. Oktober 2020). In Europa hatten damals nur Zypern und Aserbeidschan ein schnelleres Wachstum als die Schweiz. 4 Wirtschaftliche Schäden realistisch einschätzen Der wirtschaftliche Schaden der Pandemie ist massiv überschätzt worden. Damit wurde ganz gezielt gegen die „Agenda Gesundheit“ Opposition gemacht, weil gewisse Leute es nicht akzeptieren können, dass ihre Interessen in einer Pandemie nicht – wie sonst – vorgehen. Gegen das Lamentieren vieler Wirtschaftsverbände lassen sich u.a. folgende Aussagen anführen: „Keine schmerzhaften Sparprogramme nötig“ (Interview mit Bundesrat und Finanzminister Ueli Maurer, Neue Züricher Zeitung, Nr. 148, 30. Juni 2021): „Hätten wir auf jene Professoren gehört, die Hilfen in der Höhe von 100 Milliarden Franken forderten, hätten wir jetzt ein Problem. (…) Der Bund hat insgesamt 39 Milliarden Franken gesprochen. Davon werden wir wahrscheinlich nicht ganz alles brauchen. Dazu kommen die Aufwendungen der Kantone in der Höhe von etwa fünf Milliarden Franken. Rechnet man nicht exakt quantifizierbare Ausfälle wie Langzeitfolgen oder Bildungsverluste mit ein, wird uns die Pandemie volkswirtschaftlich etwa 60 bis 70 Milliarden Franken kosten.“ Die Schweizer Wirtschaft hält sich recht gut (Neue Zürcher Zeitung, Nr. 272, 21. November 2020): Zwar leiden zweifellos einzelne Branchen wie die Gastronomie, der Tourismus und die Veranstaltungsbranche. Aber ihr Anteil an der gesamten Wertschöpfung beträgt nur rund drei Prozent – und er ist damit auch nur halb so groß wie etwa in Österreich. Und: Es gibt laut der Schweizerischen Gewerbezeitung auch positive Rekorde (Nr. 514, 22. Januar 2021): „Im Jahr 2020 wurden in der Schweiz mehr Firmen gegründet als je zuvor. Das ist angesichts der Corona-Pandemie doch einigermaßen erstaunlich. Es zeigt sich aber auch: Die Schweizer Volkswirtschaft funktioniert nachhaltig gut.“ 5 Das Gesundheitswesen braucht mehr Digitalität Die fehlende Digitalisierung hat durchgeschlagen. Die Schweiz hat die Digitalisierung verpasst – das rächt sich jetzt und: „Informationen schickten Ämter, Ärzte und Spitäler im Frühjahr 2020 noch per Fax“ (Tages-Anzeiger, 19. Februar 2022). 6 Glaubwürdigkeit und Vertrauen leben Politikerinnen und Politiker dürfen grundsätzlich nur Maßnahmen verordnen, die ohne Ausnahme auch für sie selbst gelten und bei ihnen selbst zuerst umgesetzt werden. So gab es z.B. einen Entscheid der Bundesregierung, wonach Einreisende in die Schweiz (auch solche, die heimkamen) unabhängig des Impfstatus einen negativen PCR-Test nicht älter als 72 Stunden als Zertifikat und vier bis sieben Tage nach der Einreise einen erneuten PCR-Test auf eigene Kosten – in der Regel rund 150 Schweizer Franken pro Test – vorzulegen haben. Ausgenommen von dieser Regelung wurden u.a. Personen, die „eine Tätigkeit in der Schweiz ausüben, die zwingend notwendig ist für die Aufrechterhaltung der diplomatischen und konsularischen Beziehungen der Schweiz und dies mit einer Bestätigung des EDA (Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten, wo) nachweisen können“ (www.bag.admin.ch, Abfrage vom 13. Dezember 2021). Mitglieder der schweizerischen Bundesregierung verfügen über einen Diplomatenstatus. Politikerinnen und Politiker nehmen sich also selbst von dem aus, was sie die anderen zahlen lassen. Politik muss vertrauenerweckender werden, gerade bei Gesundheitsfragen.

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